Themenpredigt: "Sehnsucht"
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehnsucht hat so viele Gesichter. Die Werbung kennt
unsere Sehnsüchte. Und sie versteht es, unsere Sehnsüchte immer wieder
zu wecken
Manche von uns stehen noch immer unter dem Eindruck
der Meldungen von den entsetzlichen Terroranschlägen der vergangenen Nacht
in Paris. "Der Terrorismus hat eine historische Dimension erreicht",
schreibt die französische Zeitung LIBERATION aus Paris: "Ein koordiniertes
Massaker wurde im Herzen von Paris und in der Nähe des Fußballstadions
mit kalter Entschlossenheit verübt, mit der Absicht, möglichst viele
Menschen zu treffen. Die Täter zielen dabei auf die Politik und die internationale
Rolle Frankreichs, mittels einer entfesselten Grausamkeit, die ein ganzes Volk
terrorisieren soll."
Sehnsucht nach Frieden bewegt uns in diesen Zeiten
besonders, die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Beschütztsein, nach Bewahrung
Sehnsucht ist eine starke Kraft. Thomas Lüthje erzählt einmal eine Kurzgeschichte:
Er hatte nur einen Traum:
zum Mond fliegen können! Es verging keine Nacht, in der der kleine
Junge nicht aus seiner Dachluke in den Himmel starrte. Und wenn er
einschlief, träumte er davon, wie er unterwegs war, um dem Mond
ganz nah zu sein. Seinen Freunden erzählte er nichts davon, aus
Angst, sie würden ihn nicht verstehen. Doch seine Sehnsucht wurde
mit jeder Nacht größer und ebenso der Schmerz. Als der Junge
eines Tages einen Heißluftballon starten sah, dachte er: "Das
ist's! Wenn so eine kleine Flamme einen Ballon bis zum Himmel tragen
kann, dann kann das Feuer meines Herzens den Ballon bis zum Mond tragen!"
Er holte Bettlaken aus den Schränken und einen Wäschekorb
und Seile aus dem Keller. Er konnte es kaum erwarten. Er trug seinen
Ballon vorsichtig nach draußen. Sein Herz glühte - und der
Ballon stieg in die Luft. "Ich komme!", sagte er, als er
dem Mond entgegenflog. "Ich komme!"
(frei nacherzählt)
"Geht doch gar nicht!", sagt der Verstand
zu dieser Kindergeschichte.
"Geht doch gar nicht, dass man überhaupt
zum Mond fliegt!", sagte die Generation meiner Großeltern, als sie so
alt waren wie ich heute. "Geht doch gar nicht, dass man auf dem Seeweg immer
weiterkommt und nicht von der Erdscheibe hinunterfällt!", dachte man
im Mittelalter. Aber es gab Seefahrer und Entdecker, deren Sehnsucht nach Weite
und Meer stärker war als alle Sorge. Sehnsucht kann unbeschreiblich stark
werden und mutig machen.
Sehnsucht entspringt so meine ich einem tief empfundenen
Mangelzustand, der nicht vorrangig materielle Dinge betrifft. Damit motiviert Sehnsucht
zum zielgerichteten Denken und Handeln.
Das drückte Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) so aus: Ich zitiere (aus seinem Werk: Citadelle / Die Stadt
in der Wüste, posthum 1948): "Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle
nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die
Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten,
endlosen Meer" (Evangelisches Gesangbuch, nach Nr. 394, S. 716).
Alle großen Entdeckungen und Erfindungen,
auch die Erneuerungsbewegungen in Kirche und Staat, wurden von Menschen vorangebracht,
die von ihrer Sache gepackt, begeistert waren und die Sehnsucht nach Erfüllung
ihrer Vision hatten. Beispiele sind das Streben nach Freiheit, das vor 26 Jahren
die Mauer zwischen den deutschen Staaten zum Einsturz brachte. Oder: Menschen sehnen
sich nach Frieden und Geborgenheit.
Sehnsucht ist eine gewaltige Antriebskraft: eine
enorme Energie des Herzens, die uns Flügel verleihen kann. "Alles beginnt
mit der Sehnsucht", sagte die Schriftstellerin Nelly Sachs (1891-1970), "immer
ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres."
Sehnsucht ist etwas Großartiges. Ein Geschenk
des Schöpfers, das uns selbst schöpferisch, kreativ werden lässt.
Ich könnte nicht Pfarrer sein, ohne das innere Bild davon, wie ich mir Glaube
und Leben für mich und andere ersehne. Ich möchte als Vater nicht auf
die Sehnsucht verzichten, die mein Herz zu meinen Kindern zieht. Jeder geplante
Urlaub beginnt schon mit dem Sehnen nach Auftanken und ein Gottesdienst wie heute
mit dem Wunsch vieler, Gott und einander so zu begegnen, dass der Mehrwert unseres
Lebens aufleuchtet und Herzen heiß laufen - am besten so, dass ihr Feuer
uns zum Himmel trägt.
"Alles beginnt mit der Sehnsucht" - vielleicht
begann damit ja auch dein Weg hierher: bewusst oder unbewusst - "immer ist
im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres".
Wohl dem, der das ab und an spürt. Ich bin davon überzeugt: mit der Sehnsucht
hat Gott uns etwas Ähnliches wie mit unserem Durst mitgegeben - ein System,
dass Alarm schlägt, wenn wir uns Lebenswichtiges vorenthalten.
Deshalb kann Sehnsucht auch zur Belastung werden
kann - wie der Durst, wenn er einen fast verzehrt. Die Brüder Grimm beschrieben
vor 200 Jahren in ihrem Wörterbuch die Sehnsucht daher als "Krankheit
des schmerzhaften Verlangens".
Unerfüllte Sehnsüchte können uns
leiden lassen, das Leben verdunkeln, unzufrieden, sogar bitter machen, enttäuscht
und depressiv - manchen lassen sie sogar lebensmüde werden. Und mit unerfüllten
Sehnsüchten bekommen wir es lebenslang zu tun.
Die entscheidende Frage ist: Kann man den guten
Kern unserer Sehnsüchte als Traum, als Wunsch bewahren, ohne dass unerfüllte
Sehnsucht eine zerstörerische Energie in unserem Leben entwickelt? Kann man
lernen, angesichts unerfüllter Sehnsüchte gelassen und zufrieden zu bleiben
- und zwar so, dass man diese Sehnsüchte nicht einfach verdrängt oder
aufgibt nach dem Motto "für Euch ist Endstation, Freunde", sondern
sie einen weiter beleben und inspirieren?
Eine Hilfe dafür ist es, den "Wenn-dann"-Irrtum zu durchschauen.
Ihr kennt das bestimmt auch aus eigener Erfahrung:
"Wenn ich erstmal aus der Schule bin, dann
wird alles gut!" - Die meisten von uns hier sind keine Schüler mehr und
wissen: Es kommen neue Herausforderungen. "Wenn ich doch endlich 18 wäre,
dann müsste ich mir von niemand mehr etwas vorschreiben lassen und könnte
tun und lassen, was ich will
" "Wenn ich erstmal den Führerschein
und ein Auto habe, dann bin ich frei
", denkt man als junger Erwachsener.
"Dann
" - ja, dann gewöhnt man sich schnell daran und stöhnt
über die hohen Spritpreise. "Wenn ich erstmal einen Partner gefunden
habe, dann
" - kommt das Glück, bis man anfängt, gemeinsam
Probleme zu lösen, die man alleine nicht hätte. "Wenn wir erstmal
ein Haus haben, dann
" - "Wenn wir erstmal Kinder haben, dann
"
- "Wenn die Kinder erstmal aus dem Haus sind, dann
" "Wenn
ich mal im Ruhestand bin, dann
"
Der "Wenn-dann"-Irrtum ist eigentlich
leicht durchschaubar:
So erreicht man keine Zufriedenheit. Heißt
das also, dass es kein dauerhaftes Glück gibt? Oder könnte es einfach
heißen, dass wir an der falschen Stelle danach suchen?!
Es ist eine befreiende Erkenntnis, dass ich meine
Erfüllung in keiner Person, in keiner Sache, in keinem Zustand, keiner vollbrachten
eigenen Leistung und an keinem Ort der Welt finden kann. Das entlastet doch unsere
Partner, unsere Mitmenschen, unsere Geldbörsen und uns selbst von manchem
inneren Druck. Menschen, Dinge, Erfolge, Gesundheit, Unterhaltung - all das kann
nur ein klein wenig zu unserem Glück hinzufügen, wenn es bereits da ist.
Aber es kann keine dauerhafte Zufriedenheit bewirken.
Das lerne ich aus der Bibel. Und die ist ein Buch
voller menschlicher Sehnsüchte: der Sehnsucht des Volkes Israel nach Freiheit
von Unterdrückung zum Beispiel; der Sehnsucht von Vertriebenen nach der Heimatstadt
Jerusalem, dem Tempel, nach Zuhause und eigenen Wurzeln; der Sehnsucht nach tragfähiger
Gemeinschaft; der Sehnsucht nach Frieden; die Sehnsucht danach, heil zu werden,
geliebt zu sein; einen Lebensweg einzuschlagen, der in Erfüllung mündet.
Das ist alles top-aktuell! Genauso wie das, was die Menschen, die in der Bibel
zu Wort kommen, dafür alles anstellen: Verlassen sich auf eigene Kraft oder
Kriegskunst, begehen Ehebruch und Brudermord, zerstören für ihr Glück
das der andern, geraten in Abhängigkeiten und suchen immer wieder aufs Neue
- wie heute.
Alles hat seine Zeit! (vgl. Prediger 3,1ff) resümiert
die Bibel. Und fügt dann hinzu: Aber Gott hat die Ewigkeit in das Herz des
Menschen gelegt! (nach Prediger 3, 11).
Modern könnte man sagen: Die Ewigkeit in unserem
Herzen ist so etwas wie ein schwarzes Loch, dass alles aufsaugt. Sie ist wie ein
Fass ohne Boden. Die Ewigkeit hier drin lässt sich nicht füllen mit Zeitlichem
und Vergänglichem. Sie lässt sich nur mit Göttlichem - von und mit
Gott - füllen und stillen. Der Wunsch nach erfülltem Leben kommt von
Gott selbst in unser Herz hinein - als Grundsehnsucht, als Lebensdurst.
"Damit der Mensch Gott suchen soll, ob
er ihn wohl fühlen und finden könnte!", heißt es im Neuen Testament (Apostelgeschichte 17, 27), "und fürwahr, er ist nicht ferne von einem
jeden von uns!"
"Jeder der Durst hat, komme her!", lädt
Jesus deshalb ein: "Wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst!"
(Offenbarung 22, 17)
"Alles beginnt mit der Sehnsucht". Auch
die Suche nach Gott.
"So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen, und lass sie damit enden, Dich gefunden zu haben." - dichtet
Nelly Sachs. Genau dazu ermutigt ein Gottesdienst: unsere vordergründigen
Sehnsüchte ernst zu nehmen und der Grundsehnsucht dahinter Raum zu geben.
Gott stellt unsere Füße auf einen weiten
Raum (Psalm 31, 9). Ich kann einerseits trotz unerfüllter Sehnsüchte
gelassen bleiben. Andererseits brauche ich die Weite nicht aufzugeben, in die mich
meine Sehnsüchte führen können. Glaube lässt einen auf beiden
Beinen stehen:
Das Standbein fest verwurzelt darin, dass es Gott
ist, der meine Grundsehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, nach Verstandensein, Heimat
und Gemeinschaft erfüllt.
Und das Spielbein in Bewegung für den weiten
Raum, den er mir mit meinen Sehnsüchten eröffnet und mir ins Herz malt:
Weiten Raum etwa: dass mein Lebensstil Gutes ausstrahlt,
wünscht er sich; dass unsere Sehnsucht uns mobilisiert, Leben zu fördern
- unseres und das anderer. Was ist da noch alles möglich - ob mit 13, mit
20, 40, 60 oder 80?! Wenn dir nichts einfällt, fang doch an, die Bibel zu
lesen, dieses Sehnsuchtsbuch.
Und wenn ich manchen dieser Räume nicht erobern
und erreichen kann? Dann hilft mir mein Vertrauen auf Gott - den Stand, das Standing
(wie man das heute nennt), das er mir gibt - dennoch "fröhlich zu sein
und sich gütlich zu tun im Leben", wie es im Predigerbuch heißt.
Denn der, der die Ewigkeit in mein Herz gepflanzt hat, hat die Sehnsucht, sie mit
mir zu verbringen - ohne Endstation!
"Glaube und Liebe und Hoffnung sollen nie
aus meinem Herzen weichen. Dann gehe ich, wohin es soll, und werde gewiss am Ende
sagen: Ich habe gelebt!" (Friedrich Hölderlin).
Ich hoffe, du spürst sie noch in deinem Herzen!
Wie sich die Ewigkeit, die Gott hineingelegt hat, meldet: mit ihrer gewaltigen
Antriebskraft, mit ihrem schmerzlichen Verlangen nach Erfüllendem - nach Gott
selbst
Die Kirchengemeinde
Eysölden und das Gottesdienstteam wünscht eine gesegnete Woche!
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