78. "Leben live"-Gottesdienst, 18. Juli 2015
Der Gottesdienst wurde vorbereitet vom Gottesdienstteam. Die Predigt hielt Pfarrer Thomas Lorenz.

Die verwendeten Bibeltexte sind - soweit nicht anders angegeben - mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984,
durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung.
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.
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Ein Nachdruck des revidierten Textes der Lutherbibel sowie jede andere Verwertung
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Themenpredigt: "Der meine Seele erquickt …"

Es gilt das gesprochene Wort!



Mitten aus dem 23. Psalm ist dieses Wort herausgegriffen. Aus dem Psalm, den immer noch die meisten auswendig können. Aus dem Psalm, der in allen Kirchengemeinden zum festen Bestandteil der Stücke zählt, die im Konfirmandenunterricht auswendig zu lernen sind.

Als Pfarrer besuche und begleite ich auch immer wieder Sterbende auf ihrem letzten und schwersten Weg … Und wo Menschen zu schwach zum Reden sind, wo sie kaum noch atmen können und wirklich kraftlos, leer, verzweifelt sind, spreche ich zu ihnen oft den 23. Psalm: "Der Herr ist mein Hirte …" Und immer wieder geschieht dann etwas Unglaubliches - nämlich, dass die todkranken, kraftlosen Menschen diese uralten Worte mitflüstern, mitbeten und diese Worte ihnen Kraft und Trost geben. Es ist dann oftmals sprichwörtlich zu sehen, wie die eben noch unbeweglichen Körper aufatmen, Luft holen, sich aufrichten, neue Energie und Kraft beim Sprechen dieser Worte bekommen …

Ich glaube: wir müssten viel mehr Texte und Gebete auswendig können, weil uns gelernte Gebete helfe können. Wenn wir Leid, Dunkelheiten, Verzweiflung durchleben müssen, helfen Worte wie Psalm 23 mehr als jedes Nachdenken, Diskutieren und Verstehen - "Der Herr ist mein Hirte …" - solche Gebete trösten mit ihren jahrtausendealten Bildern.

Merkt ihr es auch? Vielleicht ist der Vergleich mit den Schafen doch nicht so verkehrt. Mit einem Mal wird klar, wie dringend wir einen Hirten brauchen, weil wir die Dinge eben doch nicht im Griff haben. Wir brauchen jemanden, der uns hilft, die Quellen und das saftige Grün im Leben zu finden, um den Kopf klar und das Herz sauber zu bekommen. Jemand, der uns an die Hand nimmt, wenn es um uns herum dunkel wird. Jemand, der für uns da ist, wenn wir versagt haben oder wenn wir verletzt wurden. Jemand, der uns hilft, am Montagmorgen motiviert und sorglos in die Woche zu blicken. Jemand, der dabei ist, wenn wir das schwierige Gespräch führen. Jemand, der mit uns geht zum Arzt, wenn wir die Diagnose abholen. Jemand, der zu dir steht, auch wenn deine Kraft langsam nachlässt und du merkst, dass das dein letzter Lebensabschnitt begonnen hat. Jemand, der mit unseren Kindern geht, wenn sie ihr eigenes Leben führen. Jemand, der dich auch dann noch in den Arm nimmt, wenn du wieder einmal Mist gebaut hast.

In Psalm 23 schaut David uns fröhlich an und flüstert uns zu: "Der Herr ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln."

David schrieb den Psalm nicht, um uns daran zu erinnern, wie sehr wir Ruheplätze und Orte brauchen, an denen wir neu motiviert werden und neue Kraft bekommen. Er schrieb den Psalm nicht, um uns neu vor Augen zu halten, wie oft wir durch dunkle Täler durch müssen und Angst haben. Er brauchte uns auch nicht an unsere Schuld zu erinnern. Er schrieb diesen Psalm, um uns diese eine Botschaft zu überbringen, die wir schon so oft gehört haben, die aber immer noch so unbegreiflich ist: Gott ist der Hirte, der dein Leben für dich und mit dir in die Hand nimmt. Der da ist, wenn du dich nicht mehr auskennst. Der dir neue Kraft gibt, wenn die Kinder dich wieder einmal aussaugen. Der dir Ruhe verschafft, wenn du den Brief vom Finanzamt öffnest.

"Der Herr ist mein Hirte." Im hebräischen Urtext sind das nur zwei Wörter: jahwe roi. Man kann eigentlich sagen: David gebraucht in diesem Psalm insgesamt 55 Worte, um diese ersten zwei zu erklären (im hebräischen Urtext). In der Lutherbibel sind es 91 Worte, um die ersten fünf zu erklären.

Um nichts anderes ging es ihm. Mit jedem Wort will er unsere Konzentration auf Gott richten. Mit jedem Satz sagt er: Er ist der gute Hirte. Er, der Herr. Nicht irgendeine neblige Fantasiegestalt, nicht irgendein Gott, der nur durch die Tradition besteht; nicht bloß ein frommer Gedanke, eine religiöse Lehre oder ein psychologischer Trick, sondern er, der lebendige Herr.

Hören wir ganz bewusst diese wunderbaren Worte:
"Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele."

"Er erquicket meine Seele." Was ist damit eigentlich gemeint?

Einerseits hört sich dieses Wort ein wenig altertümlich an. Wir kennen Wörter wie "quicklebendig", "verquicken" oder "Verquickung", die modern klingen, aber "erquicken" …?!

Andererseits ist dieses Wort gerade mit seinem nicht alltäglichen Klang "schön", geradezu unverwechselbar, einzigartig … - "erquicken" , da entstehen sofort Bilder vor unserem inneren Auge.

Das Verb mhd. erquicken, ahd. irquicchan ist eine Präfixbildung zu dem im Nhd. untergegangenen einfachen Verb mhd. quicken, ahd. quicchan, das von dem unter keck behandelten Adjektiv in dessen ursprünglicher Bedeutung "lebendig" abgeleitet ist. Es bedeutete demnach "lebendig machen, wieder beleben" Mhd. kec, quec "lebendig; lebhaft; frisch, munter; stark, fest; mutig", ahd. chec[h], quec[h] "lebendig; lebhaft", niederl. kwi[e]k "flink, lebhaft", engl. quick "schnell; munter, frisch; stark" … ? (Duden - Das Herkunftswörterbuch, 4. Auflage 2006).

Doch wenn wir wirklich verstehen wollen, was dasteht, dann müssen wir uns das hebräische Wort anschauen. Wie meistens ist auch hier der Urtext kürzer als alle Übersetzungen, nur zwei Wörter: nafschi j'schobeb.

Zunächst das Wort, das Luther mit "Seele" wiedergibt, näfäsch. Es hat verschiedene Bedeutungen: "Kehle, Hals, Verlangen, Sehnsucht, Seele, Leben …"

Das zweite Wort, das Luther mit "erquicken" übersetzt, ist im Hebräischen kein spezielles Wort, sondern man könnte sagen, ein Allerweltswort, das uns in dieser oder verwandten Formen zigmal im Alten Testament begegnet. Es leitet sich von "zurückkehren, wiederkommen" ab. nafschi j'schobeb bedeutet also wörtlich: "er lässt meine Seele zurückkehren", "er lässt meine Seele wiederkommen" - "er stellt meine Seele wieder her".

Und wenn wir uns jetzt erinnern, dass näfäsch noch andere Bedeutungen als nur "Seele" hat, dann öffnet sich ein weiter Horizont, wie dieser Satz verstanden werden kann.

Ein paar Beispiele, wie man den Satz auch wiedergeben kann:


"Er erfrischt meine Kehle" - wie in der Gluthitze des Hochsommers ein kühles, erfrischendes Getränk die Kehle herunterrinnt und den Durst stillt.

"Er bringt mein Leben zurück" - wenn ich mich ausgetrocknet fühle, wenn in mir kein Lebenssaft mehr ist, wenn ich mich fühle wie David in Psalm 63: "Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist" … Mein Hirte bringt mir mein Leben zurück.

"Er stillt meine Sehnsucht nach Leben" - nur bei meinem Hirten finde ich echtes, wahres Leben, Leben und volle Genüge, überfließendes Leben …

Hören wir weitere "Kontrastworte", wie wir diesen Vers in unseren Alltag übertragen können.

( Kontrastworte )

David weiht uns mit seinem Hirtenpsalm in eines der größten Geheimnisse des Lebens ein. Er zeigt uns, wo wir echtes und tiefes Lebensglück finden. Viele Menschen denken, dass sie dann glücklich sind, wenn sie viele materielle Dinge besitzen. Geld, ein neues Auto, schicke Fernreisen, kostbare Bücher. Andere finden ihr Glück in Beziehungen. Freunden, durch Familie oder Kinder. Und es stimmt ja auch. Irgendwann steht das neue Auto vor der Tür und wir sind glücklich. Irgendwann sitzen wir im Flugzeug und freuen uns. Wir schauen unsere Kinder an und sind glücklich. Jedenfalls für eine gewisse Zeit. Denn nach ein paar Wochen ist der Neuwagengeruch verflogen und die ersten Schrammen tauchen auf. Irgendwann sitzen wir wieder im Flugzeug, aber diesmal ist es der Rückflug und Kinder sind auch nicht immer nur die reinen Glücksspender. Und dann? Auf zu neuen Ufern? Einfach etwas Neues ausprobieren? Den Wagen verkaufen und einen neuen anschaffen. Den Job kündigen und in die Karibik ziehen? So manche Ehe ist schon daran zerbrochen, dass ein Ehepartner gesagt hat: "Hier ist es mir zu langweilig. Ich muss einfach mal was Neues ausprobieren. Mich entfalten. Mach's gut."

Phillip Keller ist von Beruf Hirte und Theologe. Er schrieb vor einigen Jahren ein Buch, in dem er seine Erfahrungen als Hirte weitergab und dabei immer wieder Parallelen zum Psalm 23 zog. In diesem Buch beschreibt er auch ein Schaf, dem seine Unzufriedenheit zum Verhängnis wurde. "Es war eines der schönsten Schafe, das ich je besessen hatte. Es war in bester Verfassung und hatte ein Prachtfell. Aber trotz dieser attraktiven Merkmale hatte es eine große Macke: Es war unruhig, unzufrieden, ein Ausbrecher. Auf welchem Feld auch immer die Herde graste - dieses Schaf suchte den ganzen Zaun nach Schlupflöchern ab, durch die es hindurch kriechen konnte, um auf der anderen Seite zu grasen. Das Schaf war einfach unzufrieden mit den Dingen, so wie sie waren. Oft, wenn es sich wieder einmal durch den Zaun gegraben hatte, graste es schließlich auf einer kahlen, braunen, von der Sonne ausgeblichenen Weide. Es war ein Schaf, das trotz aller Bemühungen, ihm die beste Pflege zu geben, dennoch etwas anderes wollte. Es war nicht, wie jenes Schaf, das sagte: ›Der Herr ist mein Hirte, ich werde keine Not leiden‹." (Phillip Keller, Psalm 23)

Erkennt ihr euch auch wieder? Ich mich schon. Wie oft war ich davon überzeugt, dass nicht Gott meine Bedürfnisse stillt, sondern dass ich das selber in die Hand nehmen muss? Wie oft brechen wir aus und hoffen unser Glück in materiellen oder sinnlichen Dingen zu finden? Wir suchen und suchen, durchbrechen Zäune und schlagen uns durch auf fremde Weiden, auf denen wir nichts verloren haben. Wir suchen den Kick, die Befriedigung, das Glück. Wir kaufen uns Sachen, die wir gar nicht brauchen. Wir gehen Wege, ohne sie mit Gott zu besprechen und machen ihm am Ende vielleicht sogar noch Vorwürfe, wenn wir hoffnungslos verschuldet, emotional verletzt oder in einer Sackgasse angekommen sind. Wir sind unzufrieden, weil wir unser Glück hinter dem Zaun suchen anstatt bei Gott, weil wir uns irgendwie nicht vorstellen können, dass er tatsächlich alle unsere Sehnsüchte stillen kann.

Hinzu kommt noch, dass wir eine weitere Eigenschaft von Schafen haben: Wir sind unglaublich vergesslich. Wir stehen vor unserem leeren Kühlschrank und fragen uns, wie wir über die Runden kommen und haben völlig vergessen, dass unser Hirte in der Lage war, 5.000 Menschen mit ein paar Broten und Fischen satt zu bekommen. Wir schauen sorgenvoll auf unsere Kontoauszüge und sehen dort nur Mangel, weil wir vergessen haben, dass er unser Hirte einmal gesagt hat: "Gebt Gott und seiner Sache den ersten Platz in eurem Leben; um den Rest werde ich mich kümmern" (nach Matthäus 6,33). Wir haben Angst um die Zukunft unserer Kinder, weil wir vergessen haben, dass unser guter Hirte mitten im Sturm über Wasser gehen kann. Wir haben das Gefühl, im Leben etwas zu verpassen oder zu kurz zu kommen, weil wir vergessen haben, dass Jesus einmal gesagt hat: "Ich aber bringe allen, die zu mir gehören, das Leben - und dies im Überfluss (Johannes 10,10).

Und selbst wenn du im Augenblick in einer verfahrenen Situation steckst und du feststellst, dass der Boden unter dir unglaublich trocken und fruchtlos ist, dann brauchst du nicht zu verzweifeln, denn der ist da, der deine Seele erquickt … Weil er der gute Hirte ist.

Die Kirchengemeinde Eysölden und das Gottesdienstteam wünscht eine gesegnete Woche!