74. "Leben live"-Gottesdienst, 15. November 2014
Der Gottesdienst wurde vorbereitet vom Gottesdienstteam. Die Predigt hielt Pfarrer Thomas Lorenz.

Die verwendeten Bibeltexte sind - soweit nicht anders angegeben - mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984,
durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung.
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Themenpredigt: "Identität - Original oder Kopie?"

Es gilt das gesprochene Wort!


Identität hat etwas mit Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu tun: Wie sehe ich mich selber? Wie sehen mich andere? Wer bin ich?

[ Selbstporträts und Fotos von Otto Dix und Max Beckmann ]

Welche Folgen das haben kann, zeigt eine Erzählung von Max Frisch: "Der andorranische Jude". Hören wir uns an, worum es in dieser Geschichte geht …

"Identität - Original oder Kopie?" - so lautet unser heutiges Thema. Sehen wir uns zunächst die Begriffe ein wenig näher an.

Identität - Identität ist ein moderner Begriff, der in aller Munde ist. Jeder weiß oder meint zu wissen, was "Identität" ist. Blicken wir auf die Wortherkunft, die sog. Etymologie. Das Wort "Identität" geht auf ein besonderes lateinisches Demonstrativpronomen (hinweisendes Fürwort) zurück: ?dem, eadem, idem und bedeutet: derselbe, dieselbe, dasselbe. Identität hat also immer einen Ausgangspunkt, etwas Vorgegebenes, das nicht beliebig und frei zu bestimmen ist.

Und damit sind wir beim zweiten Begriff: "Original". Dieses Wort wird gerne falsch geschrieben, ohne ‚i' nach dem ‚r' - entsprechend verschluckt man auch gerne in der Aussprache das ‚i' … Es ist auch ein Fremdwort, das aus dem Lateinischen stammt: origo, originis bedeutet "Ursprung, Abstammung, Herkunft, Anfang". Ein Original ist also wörtlich etwas, das sich auf "Ursprung, Abstammung, Herkunft, Anfang" bezieht und ihm entspricht. Der Ursprung eines Flusses ist z. B. die Quelle; irgendwo tritt das Wasser zum ersten Mal aus der Erde, ganz egal wie groß oder breit der Fluss im weiteren Verlauf sein mag.

Was schließlich eine Kopie ist, braucht nicht groß erklärt zu werden. Das seit dem 14. Jahrhundert bezeugte, aus der Kanzleisprache stammende Fremdwort Kopie bedeutet "Abschrift, Doppel, Reproduktion eines Schriftstücks; Abzug; Doppel eines Films; genaue Nachbildung besonders eines Kunstwerks". Es ist aus mittellateinisch copia "(den Bestand an Exemplaren vermehrende) Abschrift" entlehnt. Dies geht zurück auf lateinisch copia "Fülle, Vorrat, Menge". Eine Kopie ist nie dasselbe wie das Original!

Worum geht es also bei der Identität? Nun, wenn idem auf Deutsch "dasselbe" bedeutet, dann geht es darum, ob das, was ich in Wirklichkeit bin, dasselbe ist, mit dem übereinstimmt, was ich selbst fühle, meine und empfinde, und letztlich ob es dasselbe ist und mit dem Original übereinstimmt, wie Gott der Schöpfer mich gedacht hat.

Wer bin ich? Welch eine Frage! Kaum ein Mensch stellt sie sich direkt, und doch handelt es sich hier um die zentrale Frage unseres Lebens. die uns mehr als alles andere umtreibt. Es ist die Frage nach unserer Identität.

Identität ist die Antwort, die ein Mensch sich selbst gibt, wenn er vor der Frage steht: "Wer bin ich?"

Um so fragen zu können, muss der Mensch natürlich erst ein Ichbewusstsein haben. Wenn ein Mensch geboren wird, kann er ja zunächst noch nicht unterscheiden zwischen Ich und Nicht-Ich. Nach der Geburt sieht der Säugling sich und seine Umwelt als eine Einheit. Sobald er erkennt, dass er eine von der Umwelt unterscheidbare Größe ist, eine Person, fängt er an, sich mit sich selbst zu beschäftigen. So spielt er z. B. mit seinen Fingern oder Zehen und wundert sich, ob das wohl auch zu ihm gehört. Wenn das Kleinkind sprechen lernt, spricht es von sich selbst zunächst noch in der dritten Person. Die zunehmende Ausgestaltung des Ichbewusstseins zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es sagen kann: "Ich." Und bald fängt der junge Mensch an zu fragen: "Wer bin ich?" Diese Frage wird ihn zeitlebens nicht mehr loslassen. Jeder stellt sie, auch wenn ihm das nicht so bewusst ist. Diese Frage kennzeichnet das Problem der Identität. Sie ist nicht immer gleich drängend, aber sie wird nie aus dem Leben verschwinden. Während sie in der Pubertät besonders bestimmend ist, tritt sie später wieder etwas zurück. Ist man dann in Beruf und Familie etabliert, hat man sich meist eine schlüssige und einigermaßen befriedigende Antwort gegeben. Später, bei einer Scheidung, bei Eintreten von Arbeitslosigkeit oder Rente, tritt diese Frage wieder mehr in den Vordergrund. Auch der Alterungsprozess stellt die Identität von so manchem in Frage, der seine Bedeutung in Jugend und Schönheit, Gesundheit oder Schaffenskraft gefunden hat. Jeder Identitätsverlust bewirkt eine Lebenskrise, die prinzipiell eine positive Lösung finden könnte, aber öfter eine negative Entwicklung einleitet und zu erheblichen Störungen führen kann.

[ Lied-Einspielung Siegfried Fietz: "Wer bin ich?" (Text von Dietrich Bonhoeffer) ]

Es gibt nur eine Person, die kein Identitätsproblein hat: Sein Name ist Jahwe, was übersetzt werden kann mit: "Ich bin, der ich bin". Das heißt doch nicht zuletzt: Gott hat seine Identität in sich selbst. Er lässt sie sich nicht von andern Personen definieren.

Da es sich hier wie gesagt um ein Grundproblem des Menschen schlechthin handelt, müssen wir die Frage nach der Lösung zunächst von der Anthropologie, von der Frage nach dem, was den Menschen und das Menschsein ausmacht, her angehen. Eine Reihe menschlicher Fragen klären sich am Schöpfungsbericht. So auch die Frage der Identität.

Der Mensch wusste sich zunächst nach dem Bilde Gottes geschaffen. Durch täglichen, direkten Umgang mit seinem Schöpfer konnte er sich in Ihm wiedererkennen, sich mit Gott identifizieren. Er hatte gewissermaßen seine Identität in Gott bzw. im Gottessohn. Weil das Bild Gottes in ihm noch unbeschädigt war, konnte er sich Gott in völliger Unschuld und Unbefangenheit nähern. Er wollte, was Gott wollte, und begehrte nichts über das hinaus, was ihm von Gott gegeben war. Er wusste um seine Vollkommenheit und lebte in einem ungebrochenen Vertrauen an seinen Schöpfer.

SCHEINBARER MANGEL

An dieser Stelle setzte die Schlange an. Sie pflanzte einen Zweifel in das Herz des Menschen, Zweifel an seiner Vollkommenheit. Sie suggerierte ihm ein: "Gott hat dir etwas vorenthalten."

"Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist." (1. Mose 3,4.5).

Von dem Moment an, wo der Gedanke geboren war, dass ein Mangel vorhanden ist, sah Eva die Dinge um sich herum plötzlich mit andern Augen. Bis heute wird ja unsere Wahrnehmung ganz wesentlich davon bestimmt, was wir denken, erwarten und glauben, also von unserer Einstellung.

"Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß" (1. Mose 3,6).

Die Frucht, die sie ja nicht zum ersten Mal sah, konnte nur deshalb ihr Begehren wecken, weil sie schon vorher Zweifel an ihrer Vollkommenheit bekommen hatte, einen Mangel entdeckt zu haben glaubte. Ein Bedürfnis setzt immer einen Mangel voraus. Dabei ist es nicht entscheidend, ob er objektiv vorhanden ist oder nur vermutet wird. Im Prinzip genügt es schon, dass man meint, uns fehle etwas zum Glück. Das ist ja der uralte Trick der Werbefachleute: Erst reden sie uns einen Mangel ein, um uns dann das Produkt anzubieten, das diesem Mangel abhelfen soll. Genauso hat es die Schlange mit den ersten Menschen gemacht.

Was hat der Sündenfall in Bezug auf das Problem der Identität bewirkt? Durch ihren Unglauben und Ungehorsam brachten die ersten Menschen genau das in ihr Leben, was sie zuvor fälschlicherweise vermuteten, nämlich Mangel, den Verlust ihrer Vollkommenheit. Der Mensch wusste nun, was gut und. böse ist. Vorher war er gut, aber er wusste es nicht. Man weiß ja nur dann, was warm ist, wenn man auch weiß, was kalt ist. Man weiß nur, was hell ist, wenn man auch die Dunkelheit kennt. Der Mensch wusste jetzt, was gut ist, aber er war böse geworden. Gott wollte verhindern, dass der jetzt böse Mensch ewig leben und sich so auch die Bosheit und Gottlosigkeit verewigen sollten.

Daher vertrieb er ihn aus dem Garten Eden und ließ den Zugang zum Baum des Lebens versperren: Ein Cherub mit einem flammenden Schwert stellte sich davor. Mit dem Menschen wurde die ganze Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen.

Wir haben gesehen, dass der Mensch durch den Sündenfall seine Identität in Gott verloren hat. Seither erhebt sich für ihn die bange Frage: "Wer bin ich?" Das ist die große Frage des Menschen. Seit dem Fall lebt der Mensch ja immer noch mit der unbewussten Erinnerung an seine frühere Vollkommenheit, aber auch mit dem Wissen um seine jetzige Unvollkommenheit. Der gefallene Mensch kann seinen Wert und seine Sicherheit nicht mehr in seinem Schöpfer finden. Daher muss er sich seiner Identität anderweitig vergewissern.

Adam und Eva suchten eine neue Identität. Vor dem Fall hatten sie ihre Identität in Gott. Er war ihre Bedeutung. Er war ihre Sicherheit, Es wurde ihnen eingeflüstert: "Ihr könnt eine andere, bessere Identität finden, unabhängig von Gott." Indem Adam und Eva auf dieses Angebot eingingen, brachten sie sich in die Lage, jetzt ihre Bedeutung und Sicherheit tatsächlich außerhalb von Gott finden zu müssen. Der Fall machte bald offenbar, dass sie einem Betrug aufgesessen waren: In sich selbst fanden sie keine Identität, vielmehr verloren sie ihre Sicherheit und ihre Bedeutung. Das wird deutlich an der Antwort, die sie Gott im Garten gaben, als er sie suchte. Adam sagte: "Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich" (1. Mose 3,10). Sie fürchteten sich, weil sie ihre Sicherheit verloren; sie versteckten sich, weil sie ihre Bedeutung verloren hatten. Die aufgekommene Scham signalisiert ja den erlittenen Bedeutungsverlust. Wären sie ihrer Vollkommenheit sicher gewesen, hätten sie keinen Grund zur Scham gehabt. Es waren also Bedürfnisse entstanden, die sie vorher nicht kannten.
SEHNSUCHT NACH BEDEUTUNG

Nun begann das, was den Menschen seither umtreibt: Er sucht sein Bedürfnis nach Bedeutung und Sicherheit zu befriedigen. Er ist bemüht, sich eine passable Identität außerhalb der Beziehung zu Gott zu schaffen. Jean-Paul Sartre schrieb in seinem Essay über Baudelaire: "Der Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann!" Sartre war sich wohl nicht klar darüber, welch tiefe Wahrheit er damit aussprach. Eben nur etwas oder jemand außerhalb dieser Welt ist dazu In der Lage, doch das wollte Sartre nicht wahrhaben.

Wir halten also fest: Unsere seelisch-geistlichen Bedürfnisse nach Sicherheit und Bedeutung sind die Folge unseres durch den Sündenfall erlittenen Identitätsverlustes. Sie sind nicht Teil der Schöpfung Gottes, nicht eigentlich gottgewollt. Ihre Befriedigung auf horizontaler Ebene ist nicht natürlich, sondern widergöttlich. Wir schaffen uns eine falsche Identität, eine Identität ohne Gott!

In der Zeitung stand einmal folgender Artikel: Lassie stieg als Schäferhund aus der Wanne. Als "falscher Hund" hat sich dieser Tage ein vermeintlich reinrassiger Collie erwiesen, als sein Frauchen dem erst kürzlich erworbenen jungen Vierbeiner ein reinigendes Bad verpasste. Der junge Hund stieg als "Lassie" in die Badewanne und tauchte als Schäferhund wieder auf - zurück blieb nur rot gefärbtes Badewasser. Die enttäuschte - und vor allem getäuschte - Hundebesitzerin erstattete daraufhin Betrugsanzeige gegen eine Salzburger Tierhandlung, Dort hatte sie für immerhin etwa 500 Euro den "reinrassigen" Collie-Welpen erworben. Dieser Schäferhund hatte eine falsche Identität. Das Bad brachte es an den Tag.

Wie war es bei uns? Durch das "Bad der Wiedergeburt" wurde auch unsere falsche Identität abgewaschen. Die Frage ist aber: Was blieb im Badewasser übrig? Sind unsere Lebenslügen, unser überhöhtes Selbstbild, unser Image zurückgeblieben oder haben wir das alles durchs Bad der Wiedergeburt hindurchgerettet? Kann es sein, dass es bei den meisten Christen so ist? Zwar wird diese Identität etwas modifiziert, sie wird aber nicht völlig aufgegeben. Sonst gäbe es ja bei Christen keine Probleme mit dem Selbstwert.

NEUE IDENTITÄT

Wie kann das Identitätsproblem beim Christen zu einer echten und befriedigenden Lösung kommen? Wir haben gesehen, dass der Mensch ursprünglich seine Identität in Gott bzw. in Christus hatte. Damit wäre der Weg zur Lösung schon gewiesen. Durch die Wiedergeburt ist Christus unser Leben geworden und damit wurde uns auch eine neue, ja, perfekte Identität geschenkt. Dieses Neue müssen wir uns aber durch Glauben, zu eigen machen. Durch Identifikation mit Christus können wir dahin kommen, dass wir mit Paulus sagen können: "Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben" (Galater 2,20). Indem wir unser Eigenleben loslassen und Christus unser Leben sein lassen, finden wir unsere Sicherheit and unsere Bedeutung in ihm. In ihm finden wir eine viel bessere Identität als alles, was wir uns bisher selbst zurechtgemacht hatten. In Christus dürfen wir uns als Kinder des lebendigen Gottes wissen - gerecht, heilig und vollkommen. In Christus bleibt kein Raum für Minderwertigkeit oder Selbstzweifel. Unser Selbstwert darf sich nur eben nicht auf unser natürliches Leben gründen, sondern auf Christus in uns. Unser Fleisch ist zu nichts nütze. Daher sollen wir es ja auch am Kreuz entsorgen (Galater 5,24). Unsere "Hoffnung der Herrlichkeit" soll Christus in uns sein (Kolosser 1,27). Ist denn eine bessere Identität denkbar?

Die Kirchengemeinde Eysölden und das Gottesdienstteam wünscht eine gesegnete Woche!