Themenpredigt: "Willkommen daheim!"
Es gilt das gesprochene Wort!
Die Geschichte von den zwei Söhnen, die Jesus
erzählt hat und die wir gerade gehört haben, hat unzählige Künstler
inspiriert, das Geschehen im Bild darzustellen. Einer davon ist Rembrandt. Unter diesem
Namen kennen wir ihn; nur wenige bedeutende Männer kennt man am besten unter ihrem
Vornamen; Rembrandt ist einer von ihnen. Eigentlich heißt er Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606 bis 1669), er gilt als einer der bedeutendsten und bekanntesten niederländischen
Künstler des Barock.
Sein Bild "Heimkehr des verlorenen Sohnes" war im Jahre 1766 durch Katharina die Große für die Eremitage in
Sankt Petersburg erworben worden und befindet sich noch heute dort. Es ist ein riesiges
Ölgemälde auf Leinwand, 262 x 206 cm groß, also überlebensgroß.
Sehen wir uns dieses Bild nun näher an, nicht
auf einmal, sondern nacheinander drei der Personen, die hier dargestellt sind. Vieles
von dem, was ich heute Abend hier sage, greift im Wesentlichen auf die großartige
Deutung des Bildes durch Henri J.
M. Nouwen (geb. 1932), "Nimm
sein Bild in dein Herz" von 1991, zurück, eine geistliche Deutung dieses
Gemäldes, die in ihrer Tiefe nach wie vor unübertroffen ist.
1.
Beginnen wir mit dem knienden Mann.
Es ist der jüngere Sohn, dem sich die übliche
Gleichnisüberschrift "Vom verlorenen Sohn" verdankt.
Zunächst in Kürze ein paar Gedenken zu dem,
was hinter ihm liegt:
Das "Weggehen" des Sohnes ist daher eine
viel anstößigere Tat, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Es liegt
darin eine hartherzige Ablehnung des Hauses, in dem der Sohn geboren und aufgezogen
wurde, und ein Bruch mit der kostbarsten Tradition, die von der Gesellschaft, zu der
er gehörte, sorgsam gehütet wurde. Wenn Lukas schreibt: "Er zog fort
in ein fernes Land", das ist viel mehr als den Wunsch eines jungen Mannes, mehr
von der Welt zu sehen. Es geht um eine einschneidende Abtrennung von der Lebens-, Denk-und
Handlungsweise, die von Generation zu Generation als geheiligtes Vermächtnis bis
hin zu ihm weitergegeben worden war. Es ist mehr als Respektlosigkeit, es ist Verrat
an den höchsten Werten der Familie und Gesellschaft. Das "ferne Land"
ist die Welt, in der alles, was zu Hause als heilig gilt, verachtet wird.
Nun sehen wir seine Rückkehr. Der vom Vater umarmte
und gesegnete junge Mann ist ein armer, sehr armer Mann. Er ging mit viel Stolz und
Geld von zu Hause fort, fest entschlossen, weit weg vom Vater und der häuslichen
Gemeinschaft ein eigenes Leben zu führen. Mit nichts kehrt er zurück: sein
Geld, sein gutes Aussehen, seine Ehre, seine Selbstachtung, sein Ruf - alles wurde
vergeudet.
Rembrandt lässt über den Zustand des verlorenen
Sohnes wenig Zweifel. Der Kopf ist geschoren. Es ist der Kopf eines Gefangenen, dessen
Name durch eine Nummer ersetzt wurde. Die Kleider, die Rembrandt ihm gibt, sind Unterkleider
die den ausgemergelten Körper gerade noch bedecken. Der Vater und der große
Mann, der von der Seite auf die Szene heruntersieht, tragen weite rote Umhänge,
die ihnen Rang und Würde verleihen. Der kniende Sohn trägt keinen Umhang.
Sein gelblich-brauner zerrissener Kittel bedeckt gerade noch seinen erschöpften,
ausgezehrten Körper, der alle Kraft verloren hat. Seine Fußsohlen erzählen
die Geschichte eines langen demütigenden Wegs. Der linke Fuß, dem die Sandale
entglitten ist, weist Narben auf. Der rechte Fuß, von der zerrissenen Sandale
nur teilweise bedeckt, spricht auch von Schmerz und Elend.
Dies ist ein Mann, dem alles genommen wurde - nur eines
nicht, sein Schwert. Das einzig verbliebene Zeichen von Würde ist das kurze, an
seiner Hüfte hängende Schwert - das Merkmal seiner edlen Abstammung. Selbst
in seiner tiefsten Erniedrigung hatte er an der Wahrheit festgehalten, dass er noch
der Sohn seines Vaters war. Sonst würde er sein wertvolles Schwert, das Symbol
seiner Sohnschaft, verkauft haben. Das Schwert ist da, um mir zu zeigen: Obwohl er
als Bettler und Ausgestoßener zurückgekommen war, hatte er nicht vergessen,
dass er noch der Sohn seines Vaters war. Die Erinnerung an dieses Sohnsein war es,
die ihm am Ende die Kraft gab, zurückzukehren.
Wir sehen einen Mann, der tief in ein fernes Land hineinging
und alles verlor, was er mitgenommen hatte. Wir sehen Leere, Demütigung und Niederlage.
Er, der seinem Vater so ähnlich war, sieht nun schlechter aus als die Knechte
seines Vaters. Er ist zum Sklaven geworden.
Was ist mit dem Sohn in dem fernen Land geschehen?
Abgesehen von allen materiellen und körperlichen Auswirkungen, was waren die inneren
Folgen des Weggangs des Sohnes von Zuhause? Die Logik der Ereignisse lässt sich
genau voraussagen. Je weiter ich von dem Ort weglaufe, an dem Gott wohnt, desto weniger
vermag ich die Stimme zu hören, die mich den Geliebten nennt, und je weniger ich
diese Stimme höre, desto mehr verstricke ich mich in die Machenschaften und Machtspiele
der Welt.
Das geht in etwa so vor sich: Ich bin mir nicht mehr
ganz gewiss, dass ich ein sicheres Zuhause habe, und ich schaue auf andere, die scheinbar
besser dran sind als ich. Ich frage mich, wie ich dahin kommen kann, wo sie sind. Ich
strenge mich an, zu gefallen, Erfolg zu haben, Anerkennung zu finden. Wenn das nicht
gelingt, fühle ich Neid oder Wut auf die anderen. Gelingt es, quäle ich mich
mit dem Gedanken, dass andere auf mich eifersüchtig oder wütend sein werden.
Ich werde misstrauisch, voller Abwehr, und habe zunehmend Angst, dass ich das, was
ich mir so sehr wünsche, nicht bekomme oder das, was ich bereits habe, verliere.
Verstrickt in dieses Dickicht von Bedürfnissen und Wünschen, erkenne ich
meine eigenen Motive nicht mehr. Ich fühle mich als Opfer meiner Umgebung und
bin voller Misstrauen gegenüber dem, was andere tun oder sagen. Immer in Alarmbereitschaft,
verliere ich meine innere Freiheit und fange an, die Welt einzuteilen in solche, die
für mich sind, und solche, die gegen mich sind. Ich frage mich, ob sich überhaupt
jemand wirklich für mich interessiert. Ich halte Ausschau nach Bestätigungen
meines Misstrauens. Wohin ich auch gehe, ich entdecke sie, sodass ich mir sage: "Keinem
kann vertraut werden." Und dann frage ich mich, ob überhaupt einer mich je
wirklich geliebt hat. Die Welt um mich wird dunkel. Mein Herz wird schwer, mein Leib
voll von Gram. Mein Leben verliert seinen Sinn. Ich bin eine verlorene Seele geworden.
Dem jüngeren Sohn wurde vollkommen bewusst, wie
verloren er war, als niemand in seiner Umgebung auch nur das geringste Interesse für
ihn zeigte. Sie beachteten ihn nur solange, wie er zu ihren Zwecken benutzt werden
konnte. Aber als er kein Geld mehr auszugeben und keine Geschenke mehr zu machen hatte,
hörte er für sie auf zu existieren.
Auf einmal erkannte er den Weg, den er gewählt
hatte und wohin dieser Weg ihn führen würde; er verstand, dass er den Tod
gewählt hatte; er wusste, ein weiterer Schritt in der eingeschlagenen Richtung
würde seine Selbstzerstörung bedeuten.
Was ermöglichte ihm in diesem kritischen Augenblick,
das Leben zu wählen? Es war die Wiederentdeckung seines tiefsten Ich.
Was immer er verloren hatte, sein Geld, seine Freunde,
sein Ansehen, seine Selbstachtung, seine innere Freude, seinen inneren Frieden, er
blieb weiterhin das Kind seines Vaters. So sagte er sich: "Wie viele Tagelöhner
meines Vaters haben Brot im Überfluss; ich aber komme hier vor Hunger um. Ich
will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; halte
mich wie einen von deinen Tagelöhnern." Mit diesen Worten im Herzen vermochte
er umzukehren, das fremde Land zu verlassen und heimzukommen.
Was die Umkehr des jüngeren Sohnes bedeutet, ist
prägnant in den Worten zusammengefaßt: "Vater ..., ich bin nicht mehr
wert, dass ich dein Sohn heiße." Einerseits erkennt er, dass er die Würde
seines Sohnseins verloren hat, aber andererseits bringt ihm das Gefühl der verlorenen
Würde gleichzeitig zum Bewusstsein, dass er wirklich der Sohn ist, der eine Würde
zu verlieren hatte.
Die Umkehr des jüngeren Sohnes findet in eben
dem Augenblick statt, in dem er seine Kindschaft wieder in Anspruch nimmt, obwohl er
alle dazugehörige Würde verloren hat. In der Tat war es der Verlust von allem,
was ihn zur tiefsten Schicht seiner Identität hinführte. Er stieß auf
das Grundgestein seiner Kindschaft. Rückblickend scheint es, dass der Verlorene
Sohn alles verlieren musste, um mit dem Grund seines Seins in Fühlung zu kommen.
Als er merkte, daß er wie eines der Schweine behandelt werden wollte, wurde ihm
klar, dass er kein Schwein, sondern ein Mensch war, der Sohn seines Vaters. Diese Einsicht
wurde zur Grundlage, dass er sich zu leben entschied, statt zu sterben. Sobald er wieder
mit der Wahrheit seiner Sohnschaft in Verbindung gekommen war, konnte er - wenn auch
undeutlich - die Stimme hören, die ihn den geliebten Sohn nannte, und - wenn auch
von ferne - die Berührung des Segens fühlen.
Ein Schritt weiter: Der wahre verlorene Sohn
Ist nicht der gebrochene junge Mann, der vor seinem
Vater kniet, das "Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt", der der
"für uns zur Sünde gemacht wurde, damit wir in ihm die Gerechtigkeit
würden, die vor Gott gilt"? Ist er nicht der, der an seinem Gottgleichsein
nicht festhielt, sondern den Menschen gleich wurde? Jesus, ganz Mensch
Jesus selbst als den verlorenen Sohn sehen, geht weit
über die übliche Deutung des Gleichnisses hinaus. Und doch erfasst diese
Sicht ein großes Geheimnis, dessen Tragweite sich kaum ahnen lässt.
2.
Nun zum zweiten Bildausschnitt. Die Gestalt am rechten
Bildrand.
Der Hauptzuschauer der Szene, wie der Vater den heimkehrenden
Sohn umarmt, tritt mit großer Zurückhaltung auf. Er schaut auf den Vater,
aber ohne Freude. Er streckt keine Hand aus, er zeigt kein freundliches Lächeln,
keinen Ausdruck des Willkommens. Er steht einfach da, abseits vom Schauplatz, an einer
Annäherung offensichtlich nicht interessiert.
Die "Rückkehr" ist sicherlich das zentrale
Ereignis in der Darstellung; dennoch steht sie nicht in der geometrischen Mitte des
Gemäldes. Sie nimmt die linke Seite ein, während der große, düster
blickende ältere Sohn die rechte Seite beherrscht. Der Vater und sein älterer
Sohn sind durch einen weiten offenen Raum getrennt; er schafft eine Spannung, die nach
Lösung verlangt.
Mit dem älteren Sohn auf dem Gemälde ist
es für nicht länger möglich, bei der "Rückkehr" rührselig
zu werden. Der Hauptzuschauer geht auf Abstand, anscheinend nicht gewillt, den Empfang
durch den Vater mitzumachen. Was geht in diesem Menschen vor? Was wird er tun? Wird
er näherkommen und seinen Bruder umarmen, wie es sein Vater tut, oder wird er
ärgerlich und empört weggehen?
Die Art und Weise, wie Rembrandt den älteren Sohn
gemalt hat, zeigt, dass dieser seinem Vater sehr ähnlich ist. Beide haben einen
Bart, beide tragen einen großen roten Umhang über den Schultern. Diese Äußerlichkeiten
deuten an, dass er und sein Vater viel gemeinsam haben, und diese Gemeinsamkeit wird
durch das Licht auf dem älteren Sohn betont, das sein Gesicht ganz unmittelbar
mit dem leuchtenden Gesicht seines Vaters verbindet.
Aber was für ein schmerzlicher Unterschied zwischen
den beiden! Der Vater beugt sich über seinen heimkehrenden Sohn; der ältere
Sohn steht steif und starr da, und diese Haltung wird noch durch den Stab betont, der
von seiner rechten Hand zum Boden geht. Der Mantel des Vaters ist weit und umfangend;
der des Sohnes hängt eng am Körper. Die Hände des Vaters sind ausgestreckt
und liegen auf dem Heimkehrenden in einer Geste des Segens; die des Sohnes sind eng
am Leib zusammengelegt. Auf beiden Gesichtern ist Licht, aber das Licht vom Gesicht
des Vaters durchströmt seinen ganzen Körper, vor allem die Hände, und
umgibt den jüngeren Sohn mit einer Hülle leuchtender Wärme; dagegen
ist das Licht auf dem Gesicht des älteren Sohnes kalt und erstarrt. Seine Gestalt
bleibt im Dunkel und seine zusammengelegten Hände im Schatten.
Das Gleichnis, das Rembrandt malte, könnte auch
das Gleichnis von den verlorenen Söhnen genannt werden. Verloren war nicht nur
der jüngere Sohn, der von Zuhause wegging, um in einem fernen Land Freiheit und
Glück zu finden; auch der ältere Sohn, der zu Hause blieb, wurde ebenfalls
ein verlorener Mensch. Äußerlich tat er alles, was von einem guten Sohn
erwartet wird, aber innerlich war er fern von seinem Vater. Er tat seine Schuldigkeit,
machte Tag für Tag seine Arbeit und erfüllte alle seine Pflichten, aber mehr
und mehr wurde er unglücklich und unfrei.
Wie schwer ist es, zuzugeben, dass dieser düstere,
verärgerte, verbitterte Mann mir, geistlich gesehen, näherstehen könnte
als sein jüngerer leichtlebiger, lüsterner Bruder. Doch je mehr ich über
den älteren Sohn nachdenke, desto mehr erkenne ich mich in ihm. Als ältester
Sohn in der eigenen Familie weiß ich Bescheid, wie das ist, ein musterhafter
Sohn sein zu müssen.
Oft frage ich mich, ob nicht insbesondere die älteren
Söhne den Erwartungen der Eltern entsprechen und gehorsam und pflichtbewusst erscheinen
wollen. Sie versuchen, die Eltern zufriedenzustellen, und haben oft Angst, sie zu enttäuschen.
Aber oft spüren sie auch, schon ganz früh in ihrem Leben, einen gewissen
Neid auf ihre jüngeren Geschwister, die sich scheinbar viel weniger darum scheren,
Erwartungen anderer zu befriedigen, und viel freier "sich selbst verwirklichen".
Die Erfahrung, nicht auf Freude eingehen zu können,
ist die Erfahrung eines verbitterten Herzens. Der ältere Sohn konnte nicht in
das Haus eingehen und die Freude des Vaters teilen. Sein inneres Klagen lahmte ihn
und ließ die Finsternis ihn überfluten.
Rembrandt spürte dies in seiner tiefsten Bedeutung,
wenn er den älteren Sohn abseits von der Fläche des Bodens malte, auf dem
der jüngere Sohn vom Vater in Empfang genommen wird. Er stellte nicht das Fest
dar, nicht die Leute, die Musik machen und tanzen; sie waren nur äußere
Zeichen der Freude des Vaters. Der einzige Hinweis auf ein Fest ist das Relief eines
sitzenden Flötenspielers; es ist an der Wand angebracht, an die sich eine der
Frauen (die Mutter des Verlorenen Sohnes?) lehnt. Statt des Festes malte Rembrandt
Licht, das strahlende Licht, das beide, Vater und Sohn, einhüllt. Die Freude,
die Rembrandt darstellt, ist die stille Freude, die zum Hause Gottes gehört.
Bei der biblischen Geschichte kann man sich vorstellen,
wie der ältere Sohn draußen im Dunkel steht und nicht in das Haus hineingehen
will, das hellerleuchtet und von fröhlichem Lärm erfüllt ist. Aber Rembrandt
malt weder das Haus noch die Felder vor der Tür. Er stellt das alles mit Hilfe
von Licht und Dunkel dar. Die lichterfüllte Umarmung des Vaters ist das Haus Gottes.
Musik und Tanz, alles ist da: im Licht. Der ältere Sohn steht draußen und
weigert sich, hineinzugehen. Das Licht auf seinem Gesicht macht klar, daß auch
er zum Licht berufen ist, aber er kann nicht gezwungen werden.
Manchmal wird die Frage gestellt: Wie ging es mit dem
älteren Sohn weiter? Ließ er sich von seinem Vater überreden? Ging
er schließlich doch ins Haus hinein und nahm am Fest teil? Umarmte er seinen
Bruder und hieß ihn willkommen, wie es der Vater getan hatte? Setzte er sich
mit dem Vater und mit seinem Bruder an einen Tisch und freute sich mit ihnen am Festmahl?
Weder das Bild Rembrandts noch das Gleichnis, das auf
ihm dargestellt ist, sagt uns etwas über eine Bereitwilligkeit des älteren
Sohnes, schließlich auch sich selbst finden zu lassen. Ist er bereit, zu bekennen,
dass auch er ein Sünder ist und der Vergebung bedarf? Ist er bereit, einzugestehen,
dass er nicht besser ist als sein Bruder?
Mit diesen Fragen werden wir alleingelassen. So wie
ich nicht weiß, wie der jüngere Sohn die Feier aufnahm oder wie er nach
seiner Rückkehr mit dem Vater lebte, so weiß ich auch nicht, ob sich der
ältere Sohn jemals mit seinem Bruder, seinem Vater oder sich selbst versöhnte.
Was ich jedoch mit unerschütterlicher Sicherheit weiß, ist, wie das Herz
des Vaters ist: ein Herz von grenzenlosem Erbarmen.
Anders als die Märchen, sorgt das Gleichnis nicht
für ein glückliches Ende. Stattdessen stellt es uns vor eine der schwierigsten
geistlichen Lebensentscheidungen. Nur ich, sonst keiner, kann diese Entscheidung treffen.
Der Vater liebt den jüngeren Sohn nicht mehr als
den älteren. In der Erzählung geht der Vater ebenso zum älteren Sohn
hinaus, wie er zum jüngeren hinausging. "Mein Sohn, du bist allezeit bei
mir, und alles, was mein ist, ist dein." Der ältere Sohn hat niemals das
Haus verlassen. Der Vater hat alles mit ihm gemeinsam. Er hat sein tägliches Leben
mit ihm geteilt, nichts ihm vorenthalten.
Ein Schritt weiter: Der wahre ältere Sohn
Die Worte des Vaters im Gleichnis: "Mein Kind,
du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein", bringen die wahre
Beziehung zwischen Gott dem Vater und Jesus seinem Sohn zum Ausdruck. Immer wieder
betont Jesus, dass alle Herrlichkeit, die dem Vater zukommt, ebenso dem Sohn zukommt.
Alles, was der Vater tut, tut auch der Sohn. Zwischen Vater und Sohn gibt es keine
Trennung: "Ich und der Vater sind eins"; keine Teilung im Wirken: "Der
Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben"; keine Rivalität:
"Ich habe euch alles kundgetan, was ich von meinem Vater gehört habe";
keinen Neid: "Nichts kann der Sohn von sich aus tun, es sei denn, er erblicke,
dass der Vater es tut". Es herrscht vollkommene Einheit zwischen Vater und Sohn.
An Jesus glauben heißt glauben, dass er der vom Vater Gesandte ist, in dem und
durch den die Fülle der Liebe des Vaters geoffenbart ist.
So ist Jesus der ältere Sohn des Vaters. Er ist
vom Vater gesandt, um Gottes unzerstörbare Liebe zu allen seinen verbitterten
Kindern zu offenbaren und sich selbst als den Weg nach Hause anzubieten. Jesus ist
der Weg Gottes, der das Unmögliche möglich macht. Verbitterungen und Klagen,
so tief sie scheinen mögen, können vor dem Antlitz dessen vergehen, in dem
das volle Licht der Sohnschaft sichtbar ist. Wenn ich wiederum auf Rembrandts älteren
Sohn schaue, erkenne ich, daß das kalte Licht auf seinem Gesicht tief und warm
werden kann, ihn völlig verwandeln und zu dem machen kann, der er in Wahrheit
ist: "Der geliebte Sohn, auf dem Gottes Gefallen ruht." Jesus, ganz Gott
3.
Nun noch zum dritten Bildausschnitt: Der Vater
Das Gemälde heißt: "Die Rückkehr
des Verlorenen Sohnes"; statt dessen könnte es auch "Der Empfang durch
den barmherzigen Vater" genannt werden. Die Betonung liegt weniger auf dem Sohn
als auf dem Vater. Das Gleichnis ist in Wirklichkeit ein "Gleichnis von der Liebe
des Vaters". Selten wurde Gottes unermessliche barmherzige Liebe in so ergreifender
Weise dargestellt. Jede Einzelheit der Gestalt des Vaters - sein Gesichtsausdruck,
seine Haltung, die Farben seiner Kleidung und vor allem die stumme Geste seiner Hände
- spricht von der göttlichen Liebe zum Menschengeschlecht, die von Anfang an da
war und immer da sein wird.
Alles kommt hier zusammen: die Geschichte Rembrandts,
die Geschichte der Menschheit und die Geschichte Gottes. Zeit und Ewigkeit überschneiden
sich; nahender Tod und immerwährendes Leben berühren einander. Sünde
und Vergebung umarmen sich; das Menschliche und das Göttliche werden eins.
Rembrandts Darstellung des Vaters ist von unwiderstehlicher
Kraft; sie rührt daher, dass das Allergöttlichste im Allermenschlichsten eingefangen ist. Ich sehe einen halbblinden alten Mann mit grauem Bart, der
sich am Kinn leicht teilt; er ist in ein goldbesticktes Gewand und einen tiefroten
Umhang gekleidet; seine großen steifen Hände liegen auf den Schultern seines
heimkehrenden Sohnes. Dies alles ist sehr klar und konkret und lässt sich leicht
beschreiben.
Ich sehe jedoch auch bedingungsloses Erbarmen, unendliche
Liebe, immerwährende Vergebung - göttliche Wirklichkeiten; sie gehen aus
einem Vater hervor, der der Schöpfer des Alls ist. Hier kommt beides, das Menschliche
und das Göttliche, das Hinfällige und das Machtvolle, das Alte und das ewig
Junge, zu vollem Ausdruck. Es ist von besonderer Bedeutung, dass Rembrandt einen fast
erblindeten alten Mann wählte, um Gottes Liebe mitzuteilen. Der Vater erkennt
seinen Sohn nicht mit den "leiblichen" Augen, sondern mit dem inneren Auge
des Herzens.
Der Vater streckt sich seinen Kindern entgegen. Die
Berührung seiner Hände, die das innere Licht ausstrahlen, sucht einzig und
allein zu heilen.
Ein Vater, der seit Beginn der Schöpfung seine
Arme in gnadenvollem Segen ausgestreckt hat, der niemals sich irgendeinem aufdrängt,
sondern der immer wartet; der niemals seine Arme in Verzweiflung fallen lässt,
sondern unentwegt hofft, dass seine Kinder heimkehren werden und dass er dann zu ihnen
Worte der Liebe sprechen und seine müden Arme auf ihren Schultern ruhen lassen
kann. Sein einziger Wunsch ist es, zu segnen.
Im Lateinischen heißt segnen benedicere,
das bedeutet wörtlich: "Gutes sagen". Der Vater will - mehr durch seine
Berührung als durch seine Stimme - seinen Kindern Gutes sagen. Es liegt ihm nicht
daran, sie zu bestrafen. Sie sind bereits durch ihre eigenen inneren oder äußeren
Verirrungen im Übermaß bestraft. Der Vater will sie einfach wissen lassen,
dass die Liebe, nach der sie auf solchen verkehrten Wegen suchten, da war, da ist und
immer für sie da sein wird. Der Vater möchte ihnen - mehr mit seinen Händen
als mit seinem Mund - sagen: "Du bist es, den ich liebe; auf dir ruht mein Gefallen."
Die eigentliche Mitte des Rembrandt-Bildes sind die
Hände des Vaters. Auf sie ist alles Licht gebündelt; auf sie sind die Augen
der Umstehenden gerichtet; in ihnen ist das Erbarmen verkörpert; in ihnen kommen
Vergebung, Versöhnung und Heilung zusammen, und durch sie findet nicht nur der
erschöpfte Sohn, sondern auch der übermüdete Vater seine Ruhe.
Und seine Hände
Die beiden sind ganz verschieden.
Die linke Hand des Vaters, die auf der Schulter des Sohnes ruht, ist kräftig und
muskulös. Die Finger sind gespreizt und bedecken einen großen Teil der Schulter
und des Rückens des Sohnes. Ich kann einen gewissen Druck, besonders beim Daumen,
erkennen. Diese Hand scheint nicht nur zu berühren, sondern mit ihrer Kraft auch
zu halten. Auch wenn eine Zärtlichkeit darin liegt, wie die linke Hand des Vaters
seinen Sohn berührt, so geschieht es nicht ohne einen festen Griff.
Wie anders ist die rechte Hand des Vaters! Diese Hand
hält nicht und greift nicht. Sie ist feingliedrig, sanft und sehr zärtlich.
Die Finger liegen eng aneinander und wirken elegant. Die Hand liegt weich auf der Schulter
des Sohnes. Sie will streicheln, liebkosen, Tröstung und Wohlbehagen schenken.
Es ist die Hand einer Mutter.
Der Vater ist nicht einfach ein großer Patriarch.
Er ist ebenso Mutter wie Vater. Er berührt den Sohn mit einer männlichen
und einer weiblichen Hand. Er hält, und sie streichelt. Er bekräftigt, und
sie tröstet. Er ist wirklich Gott, in dem beides, Mannsein und Frausein, Vaterschaft
und Mutterschaft, voll und ganz gegenwärtig ist. Die zärtliche rechte Hand
ist ein Echo der Worte des Propheten Jesaja: "Vergisst denn ein Weib ihren Säugling,
ohne Erbarmen für den Sohn ihres Leibes? Auch diese mögen vergessen, ich
aber, ich vergesse dich nicht. Da, auf beide Handflächen habe ich dich eingegraben."
Die zärtliche weibliche Hand des Vaters bildet eine Parallele zum nackten verwundeten
Fuß des Sohnes, während die kräftige männliche Hand parallel zum
rechten, noch mit der Sandale bekleideten Fuß ist. Ist es zu weit gedacht, dass
die eine Hand die Verwundbarkeit des Sohnes beschützt, während die andere
Hand die Kraft und den Willen des Sohnes bestärkt, sein Leben weiterzuführen?
Dann ist da der große rote Umhang. Mit seiner
warmen Farbe und seiner bogenartigen Form bietet er einen Ort des Willkommens, wo es
gut ist zu sein. Der Umhang, der den vorgebeugten Leib des Vaters bedeckt, ist einem
Zelt gleich, das den müden Wanderer einlädt, ein wenig Ruhe zu finden. Und
es sind die ausgebreiteten Flügel einer Vogelmutter. Sie erinnerten mich an die
Worte Jesu über die mütterliche Liebe Gottes: "Jerusalem, Jerusalem
... Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, wie eine Glucke ihre Küken
unter den Flügeln sammelt - doch ihr habt nicht gewollt."
Tag und Nacht hält Gott mich sicher, so wie eine
Henne ihre Küken unter ihre Fittiche nimmt und sicher geborgen hält. Mehr
noch als das Bild vom Zelt bringt das Bild von den Fittichen einer Vogelmutter die
Geborgenheit zum Ausdruck, die Gott seinen Kindern bietet. Sie bezeichnen Fürsorge
und Schutz, einen Ort, auszuruhen und sich sicher zu fühlen.
Ein Schritt weiter: Selber werden wie der Vater.
"Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist."
Unsere letzte Berufung ist, wie der Vater zu werden und sein Erbarmen auch in unserem
täglichen Leben zu verwirklichen. Kein Vater und keine Mutter wurden je Vater
und Mutter, ohne je Sohn oder Tochter gewesen zu sein. Aber jeder Sohn und jede Tochter
hat sich bewusst zu dem Schritt zu entscheiden, über ihre Kindheit hinauszugelangen
und Vater und Mutter für andere zu werden. Ich bin dazu bestimmt, an die Stelle
meines Vaters zu treten und den anderen dasselbe Erbarmen zu erweisen, das er mir erwiesen
hat. Die Heimkehr zum Vater führt letztlich zu der Aufforderung, der Vater zu
werden.
Die Kirchengemeinde
Eysölden und das Gottesdienstteam wünscht eine gesegnete Woche!
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