58. "Leben live"-Gottesdienst, 24. März 2012
Der Gottesdienst wurde vorbereitet vom Gottesdienstteam. Die Predigt hielt Pfarrer Thomas Lorenz.

Die verwendeten Bibeltexte sind - soweit nicht anders angegeben - mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984,
durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung.
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.
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Themenpredigt: "Das verzeih ich dir nie!"

Es gilt das gesprochene Wort!



Es gibt ganz unterschiedliche Situationen, in denen Menschen diesen Satz sagen: "Das verzeih ich dir nie!" "Das verzeih ich meinen Eltern nie, dass sie meinen Bruder bevorzugt haben. Und überhaupt: Es waren ja eh immer die anderen besser!" - "Der gemeine Lehrer, der mir die Schullaufbahn verbaut hat, das verzeih ich dem nie!" - "Der rücksichtslose Autofahrer, der meiner Frau die Vorfahrt genommen hat, hat meine Frau auf dem Gewissen. Das verzeih ich dem nie!" - "Obwohl ich meine Eltern bis zuletzt aufopferungsvoll gepflegt habe, habe ich jetzt nur das Gleiche geerbt wie meine Schwester. Das verzeih ich denen nie!"

Es sind die privaten Unglücke und Katastrophen ebenso wie diejenigen, die sich in den Medien wiederfinden, die aber ja auch für die Betroffenen private Katastrophen sind: Die Tragödie bei der "Love Parade". Wen immer man für den Schuldigen hält; viele werden sagen: "Das verzeih ich dem nie!" Und die Abwahl des Oberbürgermeisters vor ein paar Wochen empfanden manche als späte Genugtuung. Der Amoklauf von Winnenden - war nicht der Vater des Amokläufers schuld, weil er seinen Waffenschrank unversperrt ließ und überhaupt in seinem Sohn die böse Saat der Faszination für Waffen angelegt hat: "Das verzeih ich dem nie!" Ein islamistischer Terrorist hat mir mein Liebstes genommen, mein Kind in der Schule eiskalt ermordet: "Das verzeih ich dem nie!"

Und sie alle schleppen diesen Satz "Das verzeih ich dir nie!" wie eine schwere Bürde mit sich herum, unter der sie beinahe zusammenbrechen. Und das Wörtchen "nie" ist da durchaus wörtlich zu verstehen. Denn selbst der Tod der verhassten Person bringt diesen Satz nicht zum Verstummen. Der islamistische Terrorist, der mein Kind ermordet hat, lebt ja gar nicht mehr, genauso wenig wie der Amokläufer von Winnenden, genauso wenig wie meine Eltern die mich beim Erben nicht besser behandelt haben als meine Schwester. Aber dieses böse Mantra verstummt nicht: "Das verzeih ich dir nie!" Im schlimmsten Fall hat es auch schon zu blutigen Rachetaten geführt. Aber auch wenn es nicht zum Schlimmsten führt, ist doch nicht selten ein abgrundtiefer Hass damit verbunden, Hass etwa in Worten: Da werden Menschen dann mit bitterbösen Briefen, E-Mails, Telefonaten tyrannisiert, ihnen das Leben zur Hölle gemacht oder sie werden in den sozialen Netzwerken (Facebook und Co) "gemobbt", fertig gemacht oder an den Pranger gestellt. Hass kann sich auch auf die Gedanken beschränken ("Am liebsten würde ich den umbringen"), was aber auch keineswegs verharmlost werden darf, weil Jesus ja ganz deutlich gesagt hat, dass unsere Gedanken eben nicht frei sind, sondern sich ebenfalls an Gottes Willen zu orientieren haben.

Auf jeden Fall richtet der Satz "Das verzeih ich dir nie!" Schaden an, wenn nicht bei der Person, gegen die er sich richtet, so doch auf jeden Fall bei der Person, die diesen Satz ausspricht - und wenn auch nur "innerlich", im Herzen, in Gedanken.

Denn ein Satz wie "Das verzeih ich dir nie!" ist eine "bittere Wurzel", von der der Hebräerbrief spricht (12,15); eine bittere Wurzel bringt auch die entsprechend bitteren Früchte im Leben und im Zusammenleben hervor.

Solche Haltungen, die unser ganzes Leben prägen und bestimmen, nennt man in der Seelsorge auch "innere Schwüre"oder "Festlegungen". "Schwur" kommt von "schwören": Ein Schwur ist etwas, was man sich geschworen hat. Solche "inneren Schwüre" erkennt man oft an der Absolutheit, mit der eine Aussage gemacht wird. Hellhörig sollten uns bestimmte "Signalwörter" machen, z. B. "nie" oder "immer", "jeder" oder "alle" oder "niemand", "keiner", "nirgends", "überall" …

"Innere Schwüre" entstehen aus Verletzungen - das können körperliche sein, meist aber sind es seelische -, Verletzungen, die mir zugefügt wurden; sie liegen in der Vergangenheit, reichen oft zurück bis in die Kindheit oder gar in die vorgeburtliche Existenz des Werdens im Mutterleib …

Ein "innerer Schwur" oder eine "Festlegung" ist also nur selten eine freie, bewusste, willentliche Entscheidung, sondern als Folge einer Verletzung nicht direkt zu beeinflussen, weil wir sie meist erst im Nachhinein bemerken und nur selten das Entstehen eines solchen "inneren Schwures" bemerken.

Der erste Schritt: Den "inneren Schwur" als solchen entlarven

Aber einen "inneren Schwur" als solchen zu erkennen, das ist schon der erste Schritt zur Heilung. Der Satz "Das verzeih ich dir nie!" ist ein "innerer Schwur", das zeigt sich schon an dem Wörtchen "nie".

Wenn ich einen "inneren Schwur" als solchen entlarvt habe, dann kommt der zweite Schritt.

Der zweite Schritt:
Dem inneren Schwur die Wahrheit des Wortes Gottes entgegenstellen


Ein innerer Schwur ist immer eine Lüge; Lügen aber zerstören unser Leben. Der Lüge des "inneren Schwures" müssen wir die Wahrheit des Wortes Gottes entgegenstellen. Und wir müssen uns dem Wort Gottes stellen, auch wenn es unser Verhalten nicht bestätigt, sondern in Frage stellt.

Was sagt uns Gottes Wort über Vergeben und Verzeihen?

Psalm 103: "Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten."

Micha 7: "Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld …; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig!"

Kolosser 3: "Gott hat euch mit Christus lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden …, und hat uns vergeben alle Sünden."

1. Johannesbrief, Kapitel 1: "Wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit."

Diese Wahrheit, dass Gott uns die Sünden vergibt, wenn wir sie bekennen, ist aber auffallend oft an die Vergebungsbereitschaft unsererseits geknüpft:

So sagt Jesus (übrigens der Lehrtext von heute!): "Wenn ihr steht und betet, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemanden habt, damit auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Übertretungen" (Markus 11,25).

"Da trat Petrus zu ihm und fragte: ›Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?‹ Jesus sprach zu ihm: ›Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.‹" (Matthäus 18,21f).

Die positive Aufforderung Jesu nehmen wir ja vielleicht noch anstandslos zur Kenntnis: "Vergebt, so wird euch vergeben" (Lukas 6,37).

Weitaus schwieriger und herausfordernder ist schon die negative Aussage, die wir aber genauso aus dem Munde Jesu hören: "Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben" (Matthäus 6,15).

Und wenn Jesus seine Jünger lehrt, mit der fünften Vaterunserbitte zu beten: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern" (Matthäus 6,12), dann setzt Jesus mit entwaffnender Selbstverständlichkeit voraus, dass seine Leute einander immer vergeben. Man muss sich diese oft so gedankenlos gesprochene Vaterunserbitte "auf der Zunge zergehen" lassen. Denn "logisch" wäre doch zu beten: "Hilf uns, unseren Schuldigern zu vergeben (also denen, die an uns schuldig geworden sind, uns verletzt haben), so wie du uns vergibst!" So hat es übrigens Christoph Zehendner in seiner Vaterunser-Vertonung formuliert! Achtet nachher mal drauf! "Lehre uns zu vergeben, so wie du uns vergibst." Aber die Provokation Jesu besteht darin, dass er uns anders zu beten lehrt: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern." Das heißt doch: "Wir vergeben einander doch; darum vergib du uns auch unsere Schuld!"

Diese Selbstverständlichkeit steht im krassen Gegensatz zu dem inneren Schwur: "Das verzeih ich dir nie!".

Der dritte Schritt: Die Festung des "inneren Schwures" zerstören

Wenn ich also den inneren Schwur als solchen entlarvt habe und ihm die Wahrheit des Wortes Gottes entgegengesetzt habe, dann kann ich den inneren Schwur nach und nach zerstören. Das klingt vielleicht ein wenig kriegerisch oder martialisch, aber genauso redet auch die Bibel. Paulus schreibt im 2. Korintherbrief: "Die Waffen unsres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig im Dienste Gottes, Festungen zu zerstören. Wir zerstören damit Gedanken und alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und nehmen gefangen alles Denken in den Gehorsam gegen Christus" (2. Korinther 10,4f).

Es geht also bei dieser Frage um nicht weniger als darum, Festungen einzureißen und auch mit unserem ganzen Denken Jesus Christus zu gehorchen.

Nicht immer geschieht das freilich von jetzt auf gleich. Je nachdem, wie schwerwiegend die unserem inneren Schwur "Das verzeih ich dir nie!" zugrunde liegende Verletzung ist, kann das auch ein längerer, über Wochen, Monate oder Jahre dauernder Prozess sein. Wichtig ist, diesen Prozess nicht voreilig zu beenden, sondern beharrlich dranzubleiben.

Dabei brauchen wir Gefühle nicht zu unterdrücken. Wir haben oft schnell ein schlechtes Gewissen, wenn wir wütend werden und versuchen, den Zorn zu unterdrücken. Aber wenn wir ihn nur verdrängen, arbeitet er doch in uns weiter. Deshalb ist es besser, sich die Gefühle von Wut und Schmerz zuzugestehen. Entscheidend ist nur, was ich weiter damit mache: dass ich sie weder ungefiltert herauslasse und dem andern Dinge an den Kopf werfe, die ich hinterher bereue; noch, dass ich mich ins Schneckenhaus zurückziehe.

Vergebung heißt: Ich gebe das Unrecht bewusst an Gott ab und entlasse den anderen aus meiner Anklage. Denn ich überlasse bewusst Gott das Richten.

Bei kleineren Verletzungen kann das schnell und unkompliziert gehen, mit einem kurzen inneren Gebet. Bei schwereren Dingen ist das ein längerer Prozess, der seine Zeit braucht, z. B. bei Wunden durch Ablehnung (die in die Kindheit oder vorgeburtlich zurückreichen können) oder gar bei geistigen, seelischen oder körperlichen Missbrauch …

Hier ist es gut, das Ganze noch mal genau anzusehen - am besten mit einem Seelsorger zusammen: Was genau hat mir der andere angetan? Was hatte das für Folgen für mich? Welche Gefühle löst das bei mir aus?

Wenn dann die Zeit reif ist, können wir dieses Unrecht, das uns angetan wurde, an Gott abgeben. Das ist kein verkrampfter Kraftakt. Sondern die Fähigkeit zu vergeben kommt aus der Barmherzigkeit Gottes, die ich selbst erlebe. Gott versteht, wenn wir manchmal noch nicht vergeben können, aber ihm es wichtig, dass wir vergeben wollen.

Vergebung legt die Basis, um sich ohne Schmerz zu erinnern.

Vergebung kostet manchmal viel, aber sie gibt uns die Freiheit zurück.

Vergebung ist ein Heilmittel, sie tut einem selber am meisten wohl.

Wer sich mit seinem Nächsten aktiv um eine bereinigte, geheilte Beziehung bemüht, tut den Willen Gottes.

Den "inneren Schwur" "Das verzeih ich dir nie!" als solchen zu entlarven, ihm Gottes Wahrheit entgegenstellen und die Festung mit Gottes Wort zerstören. So geschieht innere Heilung. Gott wird uns dabei helfen.

Die Kirchengemeinde Eysölden und das Gottesdienstteam wünscht eine gesegnete Woche!