29. "Leben live"-Gottesdienst, 19. Mai 2007
Der Gottesdienst wurde vorbereitet vom Gottesdienstteam. Die Predigt hielt Pfarrer Thomas Lorenz.

Die verwendeten Bibeltexte sind - soweit nicht anders angegeben - mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984,
durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung.
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.
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Themenpredigt:
"Keiner erwartet von dir, dass du die Wüste vor dem Verdursten rettest ..."


Es gilt das gesprochene Wort!

"Wir kennen alle das Gebot der Nächstenliebe, das ein Teil des sog. Doppelgebotes der Liebe ist. Die klassische Stelle, in der die Nächstenliebe im Neuen Testament verhandelt wird, kennt jedes Kind. Der Evangelist Lukas berichtet: "Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: ‚Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?' Er aber sprach zu ihm: ‚Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?' Er antwortete und sprach: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst‹" (Lukas 10,25-27).

Und dann erzählt Jesus die Geschichte von dem Mann, der unter die Räuber gefallen ist. Drei Leute kommen an ihm vorbei: erst ein Priester, dann ein Levit (das ist ein Tempeldiener). Als drittes kommt ein Samariter, also einer, der den Juden eigentlich nicht ganz "grün" ist und umgekehrt. Doch genau dieser rettet dem Mann das Leben. Am Schluss fragt Jesus seinen Fragesteller: "Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?" Und der antwortete: "Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: ‚So geh hin und tu desgleichen!'"

Das afrikanische Märchen "Die winzige Quelle", die wir vorhin gehört haben, greift einen Aspekt dieses Gleichnisses vom barmherzigen Samariter heraus, der aber sehr wichtig ist. Denn die Frage "Wer ist mein Nächster?" ist keine theoretische Frage, sondern hat eine höchst praktische Bedeutung.

Denn wir alle wissen, wie viel Not und Leid auf unserer Welt herrscht. An allen Ecken und Enden kriselt es. Menschen hungern und verhungern, leiden unter Krieg und Katastrophen oder unter bitterer Armut. Unsere Welt, die gute Schöpfung Gottes ist, wird mehr und mehr zerstört und damit die Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Enkel und die nachfolgenden Generationen.

Für alle diese Probleme, für all das Leidvolle und Dunkle in dieser Welt steht in dem Märchen das Bild der Wüste. "Eine große Dürre war über das ganze Land gekommen. Zuerst vertrocknete das Gras. Dann gingen die Sträucher ein. Kein Regen kam und auch der Morgen brachte keinen erfrischenden Tau. In großer Zahl waren Tiere verdurstet. Nur wenige hatten die Kraft besessen, aus der Wüste zu fliehen. Die Trockenheit nahm kein Ende. Sogar die größten und stärksten Bäume, die tief im Erdreich verwurzelt waren, verloren ihre Blätter. Alle Quellen und Brunnen, alle Flüsse und Bäche vertrockneten."

Doch da gab es eine Pflanze, die erstaunlicherweise die große Dürre unbeschadet überstand. "Wie durch ein Wunder war eine einzige Blume am Leben geblieben; eine winzige Quelle spendete ihr noch ein paar Tropfen Wasser. Aber die Quelle war verzweifelt. Sie sagte: ‚Alles vertrocknet, verdurstet und stirbt um mich herum. Ich kann nichts mehr daran ändern. Wozu soll ich noch die paar Tropfen aus der Erde holen?'"

Wenn wir vom Bild wieder in die Realität umschalten, also das Bild auf die Probleme unserer Welt anwenden, dann werden wir merken, dass viele von uns ähnlich denken wie diese eine Blume.

Manche sagen: Warum sollte ich denn überhaupt etwas tun? Was bringt's denn schon, wenn ich mich für etwas engagiere? Das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und ein Tropfen kann einen Stein nicht kühlen, sondern verdunstet im Augenblick des Auftreffens auch schon wieder.

Diese pessimistische Sichtweise lässt sich auch noch steigern. Die winzige Quelle kann ja ihre eigene Existenz und ihren unaufhörlichen Wasserfluss gar nicht dankbar annehmen, sondern denkt, es sei nur eine Frage der Zeit, wann auch ihr Sprudeln aufhört und sie mit in den Untergang gerissen wird. Solche Menschen gibt es. Die bleiben deshalb untätig, weil sie sich selber als Teil des Unheilvollen, des unabänderlich Schlechten in dieser Welt sehen und die Zukunft ja ohnehin in einer Katastrophe endet.

Beiden gemeinsam ist es, dass man nichts tut, die Hände in den Schoß legt und die Dinge einfach ihrem Lauf überlässt.
Doch ich glaube, unser Problem ist nicht so sehr das, dass wir nichts tun, sondern - im Gegenteil -, dass wir etwas tun und trotzdem oft nicht zufrieden sind.

Denn wenn man in seinem Engagement, in seinem Dienst am Nächsten nur einen Tropfen auf den heißen Stein sieht, führt das nicht zwangsläufig dazu, dass man nichts tut. Es kann auch dazu führen, dass man etwas tut, aber trotzdem immer ein schlechtes Gewissen hat, zu wenig zu tun oder nicht das Richtige zu tun. Und das führt dann oft dazu, dass man immer mehr tut, dass man sich noch dieses und jenes aufhalst, um sein Gewissen zu beruhigen. Doch auch damit lässt sich das Gewissen nicht beruhigen, sondern es meldet sich wieder. Und man sucht nach neuen Möglichkeiten des Engagements, die aber wieder nicht zur Zufriedenheit führt. Es ist wie eine Spirale, die sich immer schneller dreht. Am Ende weiß man nicht mehr, wo einem der Kopf steht, wird müde und ausgelaugt oder, wie es die Psychologen drastischer sagen, ausgebrannt, englisch "burn out".

Wie kann man dem entgegensteuern? Das afrikanische Märchen von der winzigen Quelle kann uns dazu einen Hinweis geben. Da heißt es am Schluss: "In der Nähe stand ein alter kräftiger Baum. Er hatte die Klage der Quelle gehört und sagte zu ihr: ‚Keiner erwartet von Dir, dass Du die ganze Wüste vor dem Verdursten rettest. Deine Aufgabe ist es, dieser kleinen Blume das Leben zu erhalten.'" Das, was der alte kräftige Baum sagt, ist der Schlüssel zum Verstehen: "Keiner erwartet von Dir, dass Du die ganze Wüste vor dem Verdursten rettest. Deine Aufgabe ist es, dieser kleinen Blume das Leben zu erhalten."

Nichts anderes sagt im Grunde auch Jesus, wenn er die Frage nach dem Nächsten stellt. "Der Nächste", den wir lieben sollen, ist weder eine theoretische, nur in der Fantasie existierende Person (oder Personenkreis) noch eine ein für allemal zu bestimmende Person (oder Personenkreis), die dann für alle Zeit Ziel unserer Nächstenliebe wäre.

Entscheidend ist, dass wir erkennen, wer unser Nächster ist und wem wir zum Nächsten werden können und sollen. Das kann heute jemand anders sein als gestern und wieder ein anderer als morgen. Gewiss soll Nächstenliebe nicht vom Zufall und von der Beliebigkeit bestimmt sein. Nächstenliebe kann durchaus fordern und Durchhalten erfordern. Aber es können auch ganz unscheinbare, kleine, auch einmalige Dinge sein, die doch große Wirkung haben.

Und weil wir dazu neigen, immer nur das Große und Spektakuläre als wertvoll anzusehen, sollen ein paar kurze Berichte zeigen, dass es die ganz kleinen Dinge des Alltags sind, die doch oft so viel helfen und Freude machen.

[M.H.: unverhofftes fertiges Essen nach anstrengendem Tag]

Nächstenliebe ist immer konkret. Natürlich gäbe es Hunderttausende, ja Millionen von Möglichkeiten, wo ich einem anderen dienen und ihm helfen kann, Möglichkeiten, das Leid in dieser Welt zu lindern. Aber es ist nicht entscheidend, möglichst viel zu tun, sondern es kommt darauf an, das eine oder das wenige zu tun, das mir von Gott "vor die Füße gelegt" wird.

Die Bibel spricht weniger vom Vor-die-Füße-gelegt-Bekommen als von dem was, "vor die Hände kommt". So heißt es beim Prediger Salomo: "Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu" (Prediger 9,10a). Und im 1. Buch Samuel wird das mit einer Verheißung verbunden: "Tu, was dir vor die Hände kommt; denn Gott ist mit dir" (1. Samuel 10,7). Und wenn ich dieses eine oder wenige tue, das Gott für mich vorgesehen hat, dann ist es gut und ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, zu wenig zu tun. Ich sollte also meine Augen offen halten, um zu erkennen, was Gott für mich möchte, was er für mich vorgesehen hat. Und dann auch das Kleine und Unscheinbare sehen, das eben genau in meinen von Gott geschaffenen und eröffneten Möglichkeiten liegt. Denn durch das Warten auf das Große und Spektakuläre übersehen wir oft gerade das, was Gott uns vor die Füße legt.

[H.S.: unverhofftes Geschenk vor der Haustür]

"Keiner erwartet von Dir, dass Du die ganze Wüste vor dem Verdursten rettest. Deine Aufgabe ist es, dieser kleinen Blume das Leben zu erhalten." Wenn du versuchst, die ganze Wüste vor dem Verdursten zu retten, dann wirst du scheitern und an dir selbst zweifeln und schließlich verzweifeln. Wenn du aber deine dir von Gott gegebene Aufgabe erkennst und diese engagiert und mit ganzer Kraft erfüllst, dann wirst du selber zufrieden werden. Denn es ist eine Aufgabe, die du und kein anderer erfüllen kann und erfüllen soll. Die Quelle hätte sagen können: Ich kann diese Blume nicht bewässern und am Leben erhalten, denn ich werde auch bald versiegen. Das kann nur ein Regen machen. Doch dann wäre sie ihrer Bestimmung nicht gerecht geworden. Indem sie sich aber einlässt auf ihre ihr gegebene Aufgabe - und zwar ganz und gar -, erfährt sie, dass es ihre Aufgabe ist, allein ihre und nicht die eines anderen.

[W.K.: unverhofft angebotene Hilfe beim Hausbau]

Und dann ist da noch die Frage nach der Quelle der Kraft. Wenn ich alles mit eigener Kraft schaffen möchte, dann werde ich bald kraftlos werden. Also: Wo schöpfe ich neue Kraft? Wo ist meine Kraftquelle?

Die Bibel gibt uns klare Antworten auf diese Frage: Stellvertretend für viele Aussagen der Bibel seien ein paar Psalmworte genannt: Psalm 36, Vers 10: "Bei dir, Herr, ist die Quelle des Lebens …" Im ersten Vers von Psalm 27 heißt es: "Der Herr ist meines Lebens Kraft …" Und im Kirchweihpsalm, Psalm 84, stehen in Vers 6-8 die schönen Worte, die leider viel zu selten gelesen und gesprochen oder gesungen werden: "Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, / wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion."

Wer den lebendigen Gott für seine Stärke hält, der wird immer wieder neue Kraft bekommen, der hat die Quelle seiner Kraft gefunden. "Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden" (Jesaja 40,31).

"Keiner erwartet von Dir, dass Du die ganze Wüste vor dem Verdursten rettest. Deine Aufgabe ist es, dieser kleinen Blume das Leben zu erhalten." Auf zwei Dinge also kommt es an. Lasst uns das als Leitgedanken aus diesem 29. "Leben live"-Gottesdienst mitnehmen:

Erstens: Die Aufgabe oder die Aufgaben erkennen, die Gott für uns vorgesehen hat, und sie engagiert und kraftvoll angehen und dann guten Gewissens und getrost die anderen Dinge anderen überlassen, für die Gott diese Dinge vorgesehen hat.

Zweitens: Die Kraftquelle nicht in mir selber suchen, sondern in dem lebendigen Gott, der immer genug Nachschub liefern kann, dass ich die von ihm gestellten Aufgaben schaffen kann, ohne auszubrennen.

"Keiner erwartet von Dir, dass Du die ganze Wüste vor dem Verdursten rettest."

Gott sei Dank!

Die Kirchengemeinde Eysölden und das Gottesdienstteam wünscht einen gesegneten Sonntag!