15. "Leben live"-Gottesdienst, 29. Januar 2005
Der Gottesdienst wurde vorbereitet vom Gottesdienstteam. Die Predigt hielt Pfarrer Thomas Lorenz.

Der Predigttext ist mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus:
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984.
© 1985 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Nachdruck des revidierten Textes der Lutherbibel sowie jede andere Verwertung in elektronischer oder gedruckter Form oder jedem anderen Medium bedarf der Genehmigung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Themenpredigt: "Enttäuschte Erwartungen"


Es gilt das gesprochene Wort!


Haben Sie erwartet, dass Sie heute am Eingang begrüßt werden, so wie Sie es vom "Leben live"-Gottesdienst gewöhnt sind? - Erwartung enttäuscht! Haben Sie erwartet, dass jeder Gottesdienst mit einer Begrüßung durch den Pfarrer beginnt? - Erwartung enttäuscht! In der Schule: Fleißig gelernt auf die Schulaufgabe, gutes Gefühl gehabt, schlecht gelaufen. - Erwartung enttäuscht! Weihnachten: Ein bestimmtes Geschenk erwartet, darauf gehofft, davon geträumt. - Erwartung enttäuscht! Silvester: Viel sich vorgenommen, gute Vorsätze für ein gutes neues Jahr, schon nach wenigen Tagen in den alten Trott zurückgefallen - Erwartung enttäuscht! Urlaub: Sich das ganze Jahr darauf gefreut, Kinder krank, Abreise schon nach der Hälfte der Tage - Erwartung enttäuscht! Eine Beziehung eingegangen: Verliebtheit, Liebe, auf "Wolke sieben" schweben, Hochzeit, bald darauf alles anders - Erwartung enttäuscht! Oder auch anders: Sich einen Partner fürs Leben wünschen, manches dafür getan, trotzdem erfolglos, nichts von Dauer, allein geblieben, beziehungslos - Erwartung enttäuscht!

"Enttäuschte Erwartungen" - das ist mitten aus dem Leben gegriffen. Enttäuschte Erwartungen, die gibt es ständig. Im Kleinen wie im Großen. Wir können tun, so viel wir wollen, uns anstrengen, uns die beste Mühe geben - vor Enttäuschungen sind wir damit noch lange nicht sicher.

Und wenn wir die Bibel aufschlagen. Gibt es da keine Enttäuschungen? Weit gefehlt. Die ganze Bibel ist von der ersten bis zur letzten Seite voller enttäuschter Erwartungen. Beispiele gefällig?

Gott hat sich den Menschen als Partner ausgedacht, doch der Mensch wollte lieber ohne Gott leben, auch wenn es seinen Untergang bedeutet - Erwartung, die Gott hatte, enttäuscht! In unendlicher Liebe und Geduld geht Gott seinen Menschen, seinem Volk nach, dass sie wieder zu ihm zurückkehren: "Ich streckte meine Hände aus den ganzen Tag nach einem ungehorsamen Volk, das nach seinen eigenen Gedanken wandelt auf einem Wege, der nicht gut ist; nach einem Volk, das mich beständig ins Angesicht kränkt" (Jesaja 65,2). Doch sie wenden ihm weiter den Rücken zu - Erwartung, die Gott hatte, weiter enttäuscht! Mose kommt vom Berg Sinai, auf dem er die Gebote von Gott empfangen hatte. Die Israeliten haben in der kurzen Zeit der Abwesenheit des Mose einen eigenen Gott gebastelt, ein Stierbild aus Gold, das "goldene Kalb" (2. Mose 32) - Erwartung des Mose enttäuscht! Gethsemane: Jesus betet, dass der Kelch des Leidens an ihm vorübergehen möge, dass ihm der Tod am Kreuz erspart bliebe, "doch nicht wie ich will, sondern wie du willst", sagte er zu seinem Vater (Matthäus 26,39). Jesus hoffte, dass er in dieser schweren Stunde im Gebet von seinen Jüngern unterstützt würde, dass sie mit ihm beten würden. Er kam zurück, die Jünger, sie schlafen! "Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?" (V. 40) - Erwartung von Jesus enttäuscht! Lazarus ist schwer krank. Jesus soll kommen und ihn gesund machen. Jesus wird aufgehalten; als er kommt, ist Lazarus schon tot. "Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben", sagt Martha, Lazarus' Schwester zu Jesus (Johannes 11,21) - Erwartung der Angehörigen enttäuscht! Zwei Jünger auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus. Jesus gesellt sich "inkognito" dazu. Sie waren so traurig, weil ihr Herr gestorben ist. So viel hatten sie von ihm erhofft: "Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde" (Lukas 24,21) - Erwartung der Jünger enttäuscht!

Enttäuschte Erwartungen gehören also zu unserem Leben. Und sie gehören zu unserem Glauben. Auch wer Jesus Christus vertraut, mit ihm lebt, dem bleiben Enttäuschungen nicht grundsätzlich erspart.

Wie aber kann ich mit enttäuschten Erwartungen umgehen?

Natürlich lassen sich manche Enttäuschungen vermeiden. Beispielsweise gibt es manche Erwartungen, die ich offen aussprechen kann, meinem Partner gegenüber zum Beispiel. Denn der kann nicht meine Gedanken lesen. Wenn ich mich dem anderen gegenüber äußere, meine Erwartungen äußere und nicht nur heimlich für mich behalte, dann werden diese Erwartungen auch nicht so leicht enttäuscht. Denn eins ist ja klar: Dass Erwartungen enttäuscht werden, ist keineswegs immer aufgrund von bösem Willen oder böser Absicht. Manche Enttäuschungen entstehen einfach dadurch, dass mein Gegenüber meine Erwartungen nicht kennt.

Und das gilt übrigens durchaus auch Gott gegenüber. Sicher, Gott gibt uns vieles, ohne dass wir ihn ausdrücklich danach fragen oder darum bitten. "Euer Vater im Himmel weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet", sagt Jesus (Matthäus 6,8), um aber unmittelbar danach seine Jüngern beten zu lehren, das Vaterunser. Und an anderer Stelle fragt Jesus den blinden Bartimäus, der vor den Toren Jerichos sitzt und bettelt: "Was willst du, dass ich für dich tun soll?" (Markus 10,51). Jesus will also die Erwartungen des Bartimäus genau hören. Und man kann wohl davon ausgehen, dass, wenn Bartimäus gesagt hätte: "Eine warme Suppe, Herr" oder "Ein Dach überm Kopf", dass er diese Erwartungen erfüllt bekommen hätte. Jesus hätte ihn nicht enttäuscht. Aber Bartimäus geht aufs Ganze und sagt: "Dass ich wieder sehen kann". Und Jesus heilt Bartimäus von seiner Blindheit. Erwartung erfüllt.

Übersteigerte Erwartung könnte man das nennen. Aber eine übersteigerte Erwartung kann es nur Menschen gegenüber geben, und manche enttäuschte Erwartung resultiert daraus, dass wir Menschen gegenüber einfach zu viel und zu Großes erwartet haben.

Gott gegenüber kann es übersteigerte Erwartung aber eigentlich nicht geben. Wenn wir glauben und darauf vertrauen, dass wir einen unendlich reichen Gott haben, bei dem "kein Ding unmöglich ist", dann kann ihm auch nichts zu groß und zu schwer sein, als dass er es erfüllen könnte.

Ich sage damit nicht, dass Gott ein Automat ist, bei dem wir oben die Münze in Form eines Gebets hineinwerfen und unten die Coladose in Form der erfüllten Erwartung herauskommt. Natürlich gilt: "Dein Wille geschehe", er "bringt zu Stand und Wesen", was seinem "Rat gefällt". Es geschieht immer nur, was Gott entweder will oder zulässt. Und trotzdem fragt er auch uns immer wieder "Was willst du, dass ich für dich tun soll?" Und manche enttäuschte Erwartung können wir uns in der Tat dadurch ersparen, dass wir auch Gott gegenüber unsere Erwartung ganz konkret äußern.

Es ist ganz wichtig, dass wir Erwartungen haben. Erwartungen zu haben, ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Und deshalb sind enttäuschte Erwartungen immer auch in dem Sinne positiv, dass sie eben dies zeigen: Ich habe Erwartungen, bin nicht erwartungslos. Ich habe Hoffnungen, bin nicht hoffnungslos. Denn das wäre mit das Schlimmste, was uns passieren kann: keine Erwartungen mehr zu haben. Null-Erwartung kann nicht die Antwort auf enttäuschte Erwartungen sein.

Und das gilt nicht nur so "allgemein dahingesprochen", sondern durchaus auch konkret. Es gibt ja Menschen, die gehen aus Angst vor enttäuschten Erwartungen keine Bindungen mehr ein, keine Beziehung. Warum heiraten denn heute so wenig Menschen? Weil sie Angst vor enttäuschten Erwartungen haben, weil sie hören, dass jede dritte Ehe geschieden wird und sie sich das ersparen wollen. Auch hier gilt: Null-Erwartung ist nicht die Lösung. Nur wer eine Beziehung wagt und sich ein für allemal festlegt, sich also nicht durch "wilde Ehe" ein Hintertürchen zur Flucht offenhält, nur wer möglichst offen dann auch seine Erwartungen ausspricht, der kann das Glück und die Geborgenheit einer Ehe in lebenslanger Liebe und Treue genießen.

Ich habe eben darüber gesprochen, wie sich enttäuschte Erwartungen vermeiden lassen. Und es ist wichtig, sich das auch immer wieder klar zu machen: Nicht alle enttäuschten Erwartungen müssen so kommen, nicht alle Enttäuschungen sind unvermeidlich. Zu einem gewissen Teil liegt es in unserer Hand, auch Enttäuschungen zu vermeiden.

Damit ist aber freilich zugleich gesagt, dass es enttäuschte Erwartungen gibt, die unvermeidlich sind.

Selbst wenn ich Menschen gegenüber meine Wünsche äußere, heißt das ja nicht automatisch, dass sie diese Wünsche auch immer erfüllen oder auch erfüllen wollen. Die Menschen, mit denen ich lebe, sind ja nicht "Vollstreckungsgehilfen" meiner Erwartungen. Sie haben einen eigenen Willen, eine eigene Persönlichkeit und können selber entscheiden, was sie tun und lassen. Ob es mir gefällt oder nicht.

Viel schwieriger aber sind enttäuschte Erwartungen, die man oft als "Schicksalsschläge" bezeichnet. Heute Mittag haben wir in Alfershausen einen Menschen mit Behinderung zu Grabe getragen. Die Eltern hatten sich ein gesundes Kind gewünscht. Doch es hat nicht sein sollen. - Enttäuschte Erwartung!

Da erwartet jemand, dass das Untersuchungsergebnis so ausfällt, dass man unbeschwert weiterleben kann, und dann doch: Diagnose Krebs. - Enttäuschte Erwartung!

Da nimmt man Jesu Wort: "Was willst du, dass ich dir tun soll?" ganz ernst und betet um Heilung, und muss dann doch die fortschreitende Erkrankung durchmachen, die zu Siechtum und Tod führt. - Enttäuschte Erwartung!

Da tut man alles für seine Kinder. Und doch geraten sie durch Einfluss schlechter "Freunde" auf die schiefe Bahn. - Enttäuschte Erwartung!

Da bewirbt man sich zum wiederholten Mal um eine Arbeitsstelle. Doch es gibt wieder eine Absage. - Enttäuschte Erwartung!

Solche Enttäuschungen kann man nicht vermeiden. Da gibt es keine "Tricks", keine Gegenmittel, die uns davor bewahren können. Es gibt viele Enttäuschungen, auf die wir keinerlei Einfluss nehmen können.

Wie aber gehen wir mit ihnen um?

Enttäuschungen können uns verbittert machen. Bei manchen äußern sich solche Enttäuschungen auch in Zynismus, das ist eine Lebenshaltung, die Gift und Galle verspritzt bei jedem Menschen, der einem über den Weg läuft, und entsprechend geht man solchen Menschen gerne aus dem Weg.

Nicht zufällig spricht die Bibel von "bitteren Wurzeln", die in unserem Leben entstehen können, wenn wir nicht rechtzeitig etwas dagegen tun: "Seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte …" (Hebräer 12,15).

In diesem Vers finden wir den Schlüssel zum Umgang mit enttäuschten Erwartungen. Und damit meine ich natürlich diejenigen, auf die wir keinen Einfluss nehmen können, mit denen wir aber trotzdem konfrontiert werden. Der Schlüssel lautet: "Gottes Gnade nicht versäumen".

Gott wendet sich uns zu mit seiner Gnade, obwohl wir sie nicht verdient haben. Gott sieht uns freundlich und liebevoll an, obwohl wir ihm so oft den Rücken zuwenden. An uns liegt es nur, diese Gnade auch nicht zu versäumen.

Und wenn wir diese Gnade Gottes annehmen, dann bekommt die bittere Wurzel, die enttäuschte Erwartungen hervorbringen, keine Chance. Dann wird unsere Seele heil. Gottes Gnade lässt uns leben, lässt uns neu aufleben. Enttäuschte Erwartungen brauchen unser Leben nicht kaputtzumachen. Denn Gottes Gnade ist stärker, Gottes Gnade ist größer.

Wir feiern heute miteinander das Mahl des Herrn. Wir tun das nicht, "weil wir ja auch im "Leben live"-Gottesdienst mal wieder Abendmahl feiern müssen". Nein, wir tun es, weil wir im Abendmahl die Versöhnung mit Gott und untereinander feiern. Und weil es kaum einen besseren Weg gibt, mit unseren enttäuschten Erwartungen umzugehen. Wir sind eingeladen an seinem Tisch. So wie wir ihm die Gaben, Brot und Wein, darreichen, dass er sie segnet, so können wir ihm auch unsere Enttäuschungen, unsere Verbitterung geben. Damit wir heil werden. Und wenn er selbst sich uns schenkt in den Gaben des Altars, wenn wir den wahren Leib und das Blut Christi zu uns nehmen, dann schenke er uns, dass wir sie "im Glauben und zu unserm Heil" empfangen und so Heil und Heilung, auch über unseren enttäuschten Erwartungen erfahren, dass wir unsere enttäuschten Erwartungen ihm geben können und wir dafür neue Hoffnung und neue Zuversicht von ihm bekommen, neuen Mut auch, damit wir nicht resignieren über unseren Enttäuschunge

Amen.

Die Kirchengemeinde Eysölden wünscht einen gesegneten Sonntag!